Mikko Huotari zu Szenarien, auf die sich die neue Bundesregierung im Verhältnis zu China vorbereiten muss
Herr Huotari, in ihren 16 Jahren als Bundeskanzlerin hat Angela Merkel China zwölfmal besucht. In den chinesischen Propagandamedien wird sie derzeit fast schon wehmütig verabschiedet und vielfach als Garantin für Stabilität im deutsch-chinesischen Verhältnis charakterisiert. Wie hat Merkel auf China geblickt?
Mikko Huotari: Ihr Blick hat sich sicher im Laufe der Zeit gewandelt. Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft war ihre Chinapolitik deutlich stärker normativ und menschenrechtlich begründet. Ich denke da etwa an den Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt 2007. Dann hat es im Verhältnis zu Peking gerumpelt und die Prioritäten wurden anders gesetzt. Die Kanzlerin war eine Wegbereiterin dafür, dass China zu einem Land von zentraler strategischer Bedeutung für Deutschland wurde, besonders für die deutsche Wirtschaft. Sie würde sicherlich wohl heute noch sagen, dass es richtig war, zwölfmal nach China zu reisen und so viel Zeit und Energie in die Beziehungen zu Peking zu stecken.
China hat sich in den 16 Jahren, in denen Merkel Kanzlerin war, dramatisch verändert. Das Land hat unter Präsident Xi Jinping einen hochgradig autoritären Kurs eingeschlagen. Um es mit den Worten des Holocaust-Überlebenden und Investors George Soros zu sagen: Xi Jinping ist der gefährlichste Gegner offener Gesellschaften. Gemessen daran hat sich die deutsche Chinapolitik unter Merkel kaum verändert. Warum?
Ich glaube, es ist für alle Politiker schwierig, von bestehenden Erfolgsrezepten abzurücken. Und Merkel hat ihre auf Handel, Investitionen und Einbindung und Annäherung ausgerichtete Chinapolitik als Erfolg empfunden. Ich glaube auch, sie gesteht dem Regime zu: Wir können Peking nicht ändern und müssen international Raum für China schaffen – und unter diesen Bedingungen bemühen wir uns um gute Beziehungen zu dem Land. Natürlich gibt es in Deutschland auch strukturelle Kräfte, die auf eine solche Haltung drängen, vorneweg viele große deutsche Unternehmen.
Was hat Merkel gegenüber Peking versäumt?
Sie hat es versäumt, Chinapolitik frühzeitig noch europäischer aufzustellen. Auch die mittelfristigen Verdrängungseffekte von Chinas unfairem Wettbewerb und die Risiken der steigenden Abhängigkeit von China wurden politisch wenig bearbeitet – sofern das überhaupt möglich ist. Bei Menschenrechtsfragen hat sich Deutschland früher vor allem hinter den Türen und erst zuletzt verstärkt international eingesetzt. Verpasst hat Deutschland unter Merkel dabei aber häufig einen streitbaren und offenen Verständigungsprozess, wie wir mit Peking zukünftig umgehen wollen.
Deutschland hat gewählt. Welche Koalition wünscht sich Peking jetzt, Ampel oder Jamaika?
Für Peking macht das keinen großen Unterschied. Die Volksrepublik wünscht sich Kontinuität, im besten Falle die Aufweichung von bestehenden Konflikten. Und mit Olaf Scholz oder Armin Laschet als Kanzler wird sie diese Kontinuität in großen Teilen bekommen. Die weniger starke transatlantische Verankerung der SPD könnte die derzeitig wahrscheinliche Regierungskonstellation noch attraktiver für Peking machen. Wirkliche Sorgen bereiten Peking aber eher die Grünen und die FDP.
Wie viel Einfluss werden die Grünen und die FDP auf die Chinapolitik der neuen Regierung haben?
Chinapolitik ist Kanzlerpolitik. Das hat dazu geführt, dass Außenminister Heiko Maas in dieser Frage nicht besonders präsent war. Das ist nicht nur unter Merkel so gewesen. Insofern ist der Spielraum für die Grünen und die FDP beschränkt, selbst wenn sie das Außenministerium bekommen. Aber wenn sich Grüne und FDP abstimmen, kann es ihnen gelingen, den Grundkonsens und Kern der außenpolitischen Debatte zu verschieben, so dass China nicht nur als Partner wahrgenommen wird, sondern auch als Wettbewerber und Rivale.
Wird sich die deutsche Chinapolitik verändern?
Es wird wohl kurzfristig keinen fundamentalen Wandel geben. Der Blick auf Peking wird nüchterner und weniger erwartungsvoll sein. Aber in der Praxis wird es auch unter der neuen Regierung Konsens bleiben, dass es wichtig ist, Wirtschaftsbeziehungen mit China zu vertiefen, mit Peking im Gespräch zu bleiben und Kooperationsmöglichkeiten auszuloten.
Was sind für die neue deutsche Regierung die größten Herausforderungen im Verhältnis zu China?
Grundsätzlich muss die neue Regierung ausloten, wie stark sie auf Peking als Partner für die internationale Ordnung und für die deutsche Wirtschaft setzen will. Dabei müssen mit China verbundene Risiken viel stärker in den Blick genommen werden. Die Volksrepublik und die Führung in Peking stehen unter enormen Druck, der sich an vielen Stellen entladen kann. Die Wette auf ein erfolgreiches, stabiles und weltweit integriertes China ist nicht gesichert. Da braucht es neue Risikoszenarien an den Schaltstellen in Wirtschaft und Politik: Wie reagieren wir, wenn Peking deutsche Unternehmen noch stärker unter Druck setzt? Wie verhalten wir uns, wenn es zu einer Krise in der Taiwan-Straße kommt? Das sind Szenarien, auf die sich die neue Bundesregierung vorbereiten muss.
Welchen Einfluss wird die neue Bundesregierung auf die europäische Chinapolitik haben?
Die neue Bundesregierung hat die Chance zu zeigen, dass sie schlagkräftige Koalitionen schmieden kann, die in wichtigen Politikfeldern in den nächsten Monaten konkrete Fortschritte erzielen, etwa bei der europäischen Indopazifik-Strategie, im Rahmen der G7 und auch mit den Partnern in Washington.
Das Interview führte Maximilian Kalkhof, Korrespondent der "Welt" in China. Original erschienen in der "Welt" und bei "t-online".