Intellektuelle Debatte innerhalb zulässiger Grenzen: Wie chinesische Experten die US-Präsidentschaftswahlen diskutieren
Zusammenfassung:
- Chinesische Experten sehen die Vereinigten Staaten nicht mehr als Leuchtturm der Demokratie, sondern als ein dysfunktionales politisches System am Rande des Zusammenbruchs. Dieser Wandel ist teilweise auf die Marginalisierung liberaler Stimmen in China zurückzuführen, die in der Vergangenheit auch die demokratischen Prinzipien und nicht nur die Mängel des US-Systems hervorgehoben hatten.
- Chinesische Wissenschaftler vermeiden es im Allgemeinen, sich für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump oder die Demokratin Kamala Harris auszusprechen. Das spiegelt die zurückhaltende offizielle Position der Regierung wider. Es besteht jedoch ein klarer Konsens darüber, dass die Beziehungen zwischen den USA und China unabhängig vom Wahlausgang angespannt bleiben werden.
- Die Analyse der Expertendebatten zeigt, dass sich China in Vorbereitung auf einen anhaltenden Wettbewerb mit den USA weiter auf die eigene Unabhängigkeit und Diversifizierung internationaler Partnerschaften konzentrieren wird.
- Einige Wissenschaftler argumentieren, dass Harris den berechenbaren, auf Allianzen basierenden Ansatz von Joe Biden fortsetzen würde. Trump hingegen würde die USA voraussichtlich in Richtung Isolationismus bewegen, was den Beziehungen zwischen den USA und der EU schaden könnte.
- Chinesische Wissenschaftler betrachten Europas Streben nach strategischer Autonomie - insbesondere als Reaktion auf eine mögliche isolationistische US-Politik - als eine Chance für China, die Beziehungen zu Europa strategischer für sich zu nutzen.
Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.
China kommentiere die US-Wahlen nicht, erklärte auf einer Pressekonferenz im September die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, auf die Frage nach der Zollpolitik von Kamala Harris und Donald Trump. Zudem verwehre man sich gegen die Instrumentalisierung Chinas im Wahlkampf. Auch wenn es immer wieder Vorwürfe der chinesischen Einflussnahme gab, wie zum Beispiel in einem Bericht des auf Onlinenetzwerk- und Datenanalysen spezialisierten US-Unternehmens Graphika, hat das offizielle China davon abgesehen, sich zu den Kandidaten zu äußern.
In chinesischen Medien sind aber durchaus Kommentare von Experten zu lesen: mehrere veröffentlichten zum Beispiel einen zunächst bei Foreign Affairs erschienen Artikel des prominenten Politikwissenschaftlers Wang Jisi und zweier seiner Kollegen. Auch das bekannte Magazin Caixin veröffentlichte eine chinesische Fassung des Beitrags. Darin bewerten die Autoren die Vor- und Nachteile beider US-Präsidentschaftskandidaten für China. Sie prognostizieren eine anhaltend harte, überparteilich getragene Haltung gegenüber der Volksrepublik.
Angesichts der Sensibilität des Themas wirft die Veröffentlichung wichtige Fragen auf: Inwieweit können Experten die US-Wahlen öffentlich diskutieren? Welche Themen behandeln sie, und welche Standpunkte vertreten sie?
Um zu verstehen, wie sich die Experten-Debatte im Vorfeld der diesjährigen US-Wahlen entwickelt hat, haben wir zwei der bekanntesten Plattformen für Diskussionen unter Experten und Intellektuellen in China untersucht: Aisixiang, deren redaktionelle Ausrichtung ein breiteres Spektrum an Meinungen zulässt, und Guancha.cn, eine partei- und staatsnahe Plattform, auf der eher konservative, parteinahe und nationalistische Stimmen vertreten sind. Für die Analyse haben wir nach Schlüsselwörtern zu den US-Wahlen sowie prominenten chinesischen Experten gesucht und 13 Artikel ausgewählt. Die folgenden zentralen Themen konnten wir identifizieren:
Trump oder Harris: Chinesische Experten sind zurückhaltend
Bei der Frage nach Chinas Position bezüglich einer möglichen Präsidentschaft von Harris oder Trump sind chinesische Experten zurückhaltend.
Zheng Yongnian, Politikwissenschaftler und Professor an der Chinese University of Hong Kong (Shenzhen), vertritt die Auffassung, dass es für China keinen Unterschied macht, wer die Wahlen gewinnt, solange sie „Frieden und Entwicklung“ fördern. China werde sich jedem widersetzen, der die Kerninteressen des Landes oder die globale Stabilität bedrohe.
Yan Xuetong, ein einflussreicher Experte für Internationale Beziehungen an der Tsinghua Universität, erwartet unabhängig vom Wahlausgang eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und China. Er betrachtet die Zurückhaltung Chinas mit öffentlichen Kommentaren zur US-Innenpolitik als angemessen, da solche Äußerungen als Einmischung aufgefasst werden könnten.
Wang Jisi und seine Kollegen analysieren die US-Wahl in ihrem Artikel in „Foreign Affairs“ eingehender als andere Wissenschaftler. Der Präsident des Instituts für Internationale und Strategische Studien an der Peking-Universität ist skeptisch, dass sich die US-Politik gegenüber China im nächsten Jahrzehnt wesentlich ändern wird. Wang prognostiziert einen anhaltenden strategischen Wettbewerb unabhängig vom Wahlergebnis 2024: Trump werde drastischere handelspolitische Maßnahmen, etwa höhere Zölle, ergreifen und eine stärkere technologische Entkopplung forcieren. Harris werde voraussichtlich, wie Joe Biden, für einen berechenbareren, auf Allianzen basierenden Ansatz gegenüber China stehen.
Vom „Leuchtturm der Demokratie“ ist nicht mehr die Rede
Liberale Stimmen in China nutzten traditionell die US-Präsidentschaftswahlen, um die Rolle des Landes als „Leuchtturm der Demokratie“ (民主灯塔) hervorzuheben. Durch die innenpolitischen Verhärtungen in Xi Jinpings China und mit Trumps Chinapolitik veränderte sich die Debatte. Bei der Wahl im Jahr 2020 spalteten sich die intellektuellen Kreise Chinas vor allem entlang der Frage von Pro- oder Anti-Trump. Schon damals betonten nur noch sehr wenige, dafür sehr bekannte Rechtswissenschaftler und politische Kommentatoren wie He Weifang, Zhang Qianfan, Zhang Xuezhong und Zhang Ming in ihren Beiträgen noch den Wert demokratischer Prinzipien. Seitdem hat Beijing liberale Stimmen jedoch noch weiter aus öffentlichen Debatten verdrängt. Stattdessen dominiert nun die nationalistische Kritik am politischen System der USA den Diskurs. Diese spiegelt die Position des Parteistaates wider. Für vielfältigere Perspektiven, die einst zum Verständnis der US-Demokratie in China beitrugen, ist kaum noch Raum.
Einige chinesische Experten teilen die wachsende Skepsis gegenüber dem politischen System der USA. Zhang Weiwei, Professor an der Shanghaier Fudan-Universität, schreibt in einem Beitrag auf Guancha.cn, die USA wären von „Schmugglern“ (走私商人, eine Anspielung auf die Boston Tea Party von 1773) und Sklavenhaltern gegründet worden, was das politische System grundsätzlich undemokratisch und reformresistent mache. Zhang betont, wie schwierig es sei, die Verfassung der USA zu ändern und welche Mängel das Mehrheitswahlrecht („Winner-takes-all“-Prinzip) habe. Taktiken wie die Verhinderung oder Verzögerung von Abstimmungen durch in die Länge gezogene Debatten („Filibuster“) oder die Manipulation der Wahlkreise durch geografische Grenzziehung („Gerrymandering“) dienten der Absicherung der Interessen traditioneller Eliten und würden Reformen nahezu unmöglich machen.
In ähnlicher Weise betont Qiang Ge, Professor an der Zentralen Parteihochschule, den Verfall der politischen Kultur in den USA unter dem Einfluss der sozialen Medien und einer „Einzelhandelspolitik“ (零售政治), bei der Kandidaten auf „Tourneen“ Nischenthemen in den Mittelpunkt stellten, um ihre Wähler zu erreichen. Um im Wahlkampf zu bestehen, sei neben einer übermäßigen Online-Präsenz auch eine hohe körperliche Belastbarkeit der Kandidaten erforderlich.
Auch die internationale Kritik am politischen System der USA hat ihren Weg in den chinesischen Diskurs gefunden, insbesondere über die nationalistisch ausgerichtete Plattform Guancha.cn. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Übersetzung einer Erklärung der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zakharova. Diese verglich die Wahldebatten in den USA mit einem „Duell auf der Titanic“. Sie stellte die Bedeutung der Wahldebatten infrage in einem Land, welches am Rande eines Systemkollaps stünde.
In einem weiteren ins Chinesische übersetzten Artikel geht es um die Argumentation des russischen rechtsextremen Philosophen Alexander Dugin. Ihm zufolge stellte Trump als Präsident pragmatisch die nationalen Interessen Amerikas in den Vordergrund. Im Gegensatz dazu konzentriere sich die Demokratische Partei weniger auf die Bedürfnisse der US-Bürger und sei vielmehr darauf bedacht, die globale Vorherrschaft der USA aufrechtzuerhalten – auch wenn dies das Risiko eines neuen Weltkriegs berge.
Zhang Taisu, Professor an der Universität Yale, analysiert in einem von guancha.cn übernommenem Beitrag, wie große Unternehmen, Finanzkonzerne und die Eliten einen „Verwaltungsstaat“ (行政政府) gestärkt hätten mit nur sehr kleinen Handlungsspielräumen für die Regierung und gewählte Politiker. Dies habe zum Aufstieg des Populismus geführt, und das Misstrauen in das politische System in den USA weiter geschürt.
Hoffnung auf mehr „Pragmatismus“ in Europa im Falle einer neuen Trump-Regierung
Die Beziehungen zwischen der EU und den USA sind ebenfalls Gegenstand der Diskussionen chinesischer Wissenschaftler im Zusammenhang mit den Wahlen. Drei der 13 analysierten Artikel befassen sich mit Trumps potenziell isolationistischer Haltung und deren Folgen für die transatlantischen Beziehungen.
Cui Hongjian, Direktor des Instituts für Europastudien am China Institute of International Studies, erwartet, die EU würde im Fall einer erneuten Wahl Trumps einen „pragmatischeren“ Ansatz verfolgen als zuvor. Während Trumps erster Amtszeit hätte Brüssel Trump scharf kritisiert und ihn als „schlimmer als einen Feind“ bezeichnet. Nun könnte die EU jedoch ihre Interessen in den Vordergrund stellen und nach Kompromissen suchen, was zu einem Wandel in den transatlantischen Beziehungen hin zu einer stärker interessengeleiteten US-Politik der EU führen könnte.
Auch Yan Shaohua, der am Zentrum für China-Europa-Beziehungen der Fudan-Universität forscht, betont, Trump könnte als Präsident das europäische Streben nach strategischer Autonomie und einer geringeren Abhängigkeit von anderen Ländern verstärken.
Zhao Huaipu, Direktor des Zentrums für Europastudien an der China Foreign Affairs University, argumentiert, die EU könnte eine strategische Ambiguität zwischen China und den USA aufrechterhalten, um im Wettbewerb beider Seiten Vorteile zu erzielen. Er rät China, die USA und die EU zwar als enge Partner zu betrachten, in bestimmten Fragen jedoch zwischen der EU, einzelnen Mitgliedsstaaten und den USA zu unterscheiden. Darüber hinaus plädiert Zhao dafür, China könnte die Einrichtung eines trilateralen Interaktionsmechanismus mit den USA und der EU erwägen. Dieser könne dazu dienen, das Risiko gemeinsamer Maßnahmen der USA und der EU gegenüber China verringern.
Harris für Beijing berechenbarer, aber Trump könnte neue Spielräume eröffnen
Chinesische Experten vertreten im Allgemeinen die neutrale Haltung der Regierung zu den US-Wahlen und sprechen sich weder für Trump noch für Harris aus. Diese Zurückhaltung ist nicht nur auf die Marginalisierung liberaler Stimmen und die Vorsicht der Wissenschaftler zurückzuführen. Sie hat auch mit der Erwartung zu tun, dass die Beziehungen zwischen den USA und China unabhängig vom Wahlausgang weiterhin vom strategischen Wettbewerb geprägt sein werden. Sehr deutlich sprechen sich die Wissenschaftler für engere Beziehungen mit Europa aus, um Risiken durch einen transatlantischen Schulterschluss gegenüber China zu verringern.
Angesichts der zurückhaltenden Äußerungen bleiben strategische Präferenzen der chinesischen Experten für den Wahlausgang unklar. Wang Jisi deutet an, Harris könnte für einen berechenbareren Ansatz gegenüber China stehen, was der Regierung in Beijing erlauben würde, seine politischen Maßnahmen besser zu planen. Da zentrale Elemente von Trumps Chinapolitik von Biden fortgesetzt wurden, wie die Beschränkungen des Zugangs zu kritischen Technologien und die Einschränkung chinesischer Technologieimporte in die USA, rechnen die Experten diesbezüglich kaum mit Änderungen unter einer Regierung Harris.
Manche Wissenschaftler weisen aber auch auf mögliche Vorteile einer Trump-Präsidentschaft hin. Während Wang Jisi vor einer stärkeren technologischen Entkopplung warnt, argumentieren Cui Hongjian, Yan Shaohua und Zhao Huaipu, Trumps mögliche isolationistische Haltung könnte in der EU das Streben nach strategischer Autonomie begünstigen. Diese Experten sprechen sich für eine Vertiefung der chinesisch-europäischen Beziehungen aus. Wahrscheinlich hoffen sie, eine neue Regierung Trump könnte für Beijing diplomatische und handelspolitische Vorteile schaffen, weil sie die transatlantische Zusammenarbeit zu China schwächen würde.