Annalena Baerbock and Wang Yi at the 2024 Munich Security Conference
Kommentar
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MERICS Forum: Die Chinapolitik der künftigen Bundesregierung

Deutschlands China-Strategie, die im Juli 2023 von der scheidenden Regierung verabschiedet wurde, erkennt an, dass China zu einer großen Herausforderung geworden ist. Doch das Land ringt um die richtige Balance zwischen Wirtschaft und Politik - und zwischen nationalen und europäischen Ansätzen. Im Vorfeld der Bundestagswahl im Februar haben wir führende Experten gebeten, in der ersten Ausgabe des MERICS-Forums ihre Einschätzungen zu der folgenden Frage zu geben: Was muss die kommende Bundesregierung in der Chinapolitik (anders) priorisieren und/oder umsetzen?

Thorsten Benner

Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi)

Rebecca Arcesati

 

Es ist klar: Wenn sich China verändert, muss sich auch unser Umgang mit China verändern“. So klang 2022 Olaf Scholz‘ Abkehr von der Merkelschen Chinapolitik, welche Änderungen in China einfach ignorierte. Doch die Anpassungen der Chinapolitik haben unter Scholz nicht Schritt gehalten mit den realen Herausforderungen, vor die China uns stellt.

Die regierungsamtlich geeinte erste deutsche „China-Strategie“ fiel durchaus ambitioniert aus. Allerdings stand immer fest: die "China-Strategie" ist nur ein PDF. Die reale Chinastrategie ist – wie Renan einmal über die Nation sagte – eine plébiscite de tous le jours, ein täglicher Volksentscheid. Diese Abstimmung fiel unter der Ampel mal realistisch aus (wie bei der Durchfahrt durch die Taiwan-Straße), mal katastrophal kurzsichtig (wie bei den EV-Ausgleichszöllen). Die nächste Koalition muss konsistent realistisch und ambitioniert agieren. Fünf Grundsätze sollten Kanzler und Koalitionspartner leiten:

Erstens: eine klare Absage an die Sirenengesänge derer, die eine Annäherung an Peking als Antwort auf die Unberechenbarkeit Donald Trumps empfehlen.

Zweitens: Deutschland muss gemeinsam mit Partnern seine Abhängigkeiten gegenüber China weit umfassender und entschlossener verringern. 

Drittens: es ist im friedenspolitischen Kerninteresse Deutschlands, klare Kante gegen Chinas Unterstützung der Kriegsmaschinerie des Kremls zu zeigen und Peking dafür einen hohen Preis zahlen zu lassen. Bei kritischen Technologien darf Deutschland keinen weiteren Beitrag mehr zur militärischen Modernisierung Chinas leisten. Peking muss im Sinne funktionierender Abschreckung zudem stetig klar sein, wie hart die Reaktion Deutschlands und Europas auf Aggression gegenüber Taiwan oder anderen Staaten im Indo-Pazifik ausfallen wird.

Viertens: Deutschland muss weit entschlossener gegen den drohenden „China-Schock 2.0“ vorgehen, der den Kern deutscher industrieller Wertschöpfung fundamental bedroht und dabei auch heilige Kühe schlachten. „Within the WTO where we can. Beyond WTO where we must“ – das muss das Leitprinzip sein.  

Fünftens: Deutschland muss mehr darin investieren, dass Europa so geeint wie möglich gegenüber Peking auftritt.

All dies gibt es nicht umsonst. Die Kosten muss Deutschland zu tragen bereit sein. Die Rechnung bei Nicht-Handeln wird später umso höher sein. Diese Erfahrung haben wir mit Russland auf schmerzhafte Weise gemacht.

Jörn-Carsten Gottwald

Professor für Politik Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum

Rebecca Arcesati

 


Die kommende Bundesregierung steht in der China-Politik weiterhin vor großen Herausforderungen. Ein einheitliches und intern abgestimmtes Auftreten gegenüber Beijing ist dabei eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiche Politikgestaltung. Initiativen wie die China-Strategie und das Konzept des De-Riskings haben wichtige Weichen gestellt.

Doch auch in Bezug auf China wird die neue Regierung sehr viel mehr in eine umfassende Sicherheitspolitik investieren müssen als bisher. Der Versuch, hier zunächst einen breiten Konsens in Deutschland und Europa herzustellen, dürfte zu schwierig und zu langwierig werden angesichts der geopolitischen Verwerfungen in Europa und Ostasien. Die zweite Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump erhöht schon jetzt den Druck auf Deutschland und die EU, wohlklingenden Worten auch dann Taten folgen zu lassen, wenn dies mit erheblichen politischen wie materiellen Kosten verbunden ist. Die neue Regierung wird Führungsstärke zeigen müssen.

Hierfür ist es dringend erforderlich, entschlossen die sicherheitspolitischen Kapazitäten zu schaffen, um auf Chinas Interventionen in die die deutsche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und erst recht auf Chinas Unterstützung für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine reagieren zu können. Auch hier gilt: wer China dafür kritisiert, Dual-Use-Güter und Drohnen an Putins Russland zu liefern, muss die Schlupflöcher im europäischen Sanktionsregime, die auch deutsche Unternehmen nutzen, konsequenter schließen. 

In der Chinapolitik hat die neue Bundesregierung nun die Gelegenheit, nach Jahren der gezielten Förderung von China-Expertise tatsächlich auf diese vorhandene Expertise in all ihrer Diversität zurückzugreifen.

Deshalb sollte die neue Bundesregierung weiter darauf achten, die bestehenden Formen des Austauschs und der Zusammenarbeit nicht vorschnell oder gar aus ideologischen Gründen abzubrechen. Kenntnis von chinesischer Politik und Wirtschaft bleibt in höchstem Maße wichtig. Klare, einheitliche und glaubwürdige Positionen einer Bundesregierung, die sich tatsächlich europäisch begreift und entsprechend handelt, würden in China sehr ernstgenommen. Nur dann können China und Deutschland auch bei der Lösung dringender globaler Krisen – Stichwort Klimakrise -   Wege finden, als Partner zusammenzuarbeiten. 

Cora Francisca Jungbluth

Senior Expert China and Asia-Pacific, Bertelsmann Stiftung

Rebecca Arcesati

 

Die folgenden Punkte sind zentral: 

1. Europäisierung tatsächlich umsetzen

Die Europäisierung der deutschen Chinapolitik sollte ganz oben auf der Agenda stehen. Dazu gehört es, deutsche Alleingänge in der Besuchsdiplomatie und bei wichtigen Vorhaben in europäischem Interesse (z.B. Ausgleichszölle) zu vermeiden.

Hochrangige Besuche in China und begleitende Wirtschaftsdelegationen sollten künftig möglichst auf EU-Ebene koordiniert werden und in der Zusammensetzung mehrere Mitgliedstaaten sowie idealerweise EU-Vertreter:innen berücksichtigen. Generell sollten im Handeln gegenüber China langfristige europäische und deutsche Interessen im Vordergrund stehen, nicht die kurzfristigen Interessen einzelner Branchen oder Unternehmen.

2. Klare und konzertierte Botschaften an China senden

Wichtige Kernthemen gegenüber China könnten künftig noch stärker gesetzt werden. Dazu braucht es in der Kommunikation klare und möglichst auf EU-Ebene abgestimmte Botschaften (siehe 1).

Ein Beispiel hierfür könnte das von chinesischer Seite immer wieder kritisierte Thema De-risking sein. Die EU und Deutschland sollten deutlich machen, dass China dies selbst aktiv praktiziert (z.B. Dual Circulation) und könnten sogar vorschlagen, beim De-risking der globalen Lieferketten zusammenzuarbeiten, um Klumpenrisiken und damit verbundene Kosten zu vermeiden.

Ein zweites Beispiel sind europäische rote Linien und daraus folgende Konsequenzen. Solange es beispielweise einen Krieg in Europa gibt, den China durch seine engen Beziehungen zu Russland zumindest indirekt unterstützt, wird es keine – wie auch immer geartete – Normalisierung der EU-Beziehungen zu China geben.

3. China-Kompetenz nicht nur anstreben, sondern auch finanzieren

Die China-Strategie hat für den Mangel an China-Kompetenz in Deutschland auf allen Ebenen sensibilisiert und sich für einen stärkeren Auf- und Ausbau ausgesprochen – allerdings unter der Vorgabe, dass dies möglichst budgetneutral geschehen sollte. Ein langfristig angelegter und nicht nur projektbezogener Auf- und Ausbau zusätzlicher China-Kompetenz erfordert aber auch zusätzliches Budget.

Die neue Bundesregierung sollte daher die Frage priorisieren, wie das zu bewerkstelligen ist. Zu berücksichtigen wären hierbei insbesondere öffentliche Verwaltungen (Bund, Länder, Kommunen), Verfügbarkeit von Übersetzungs- und Dolmetschdiensten (z.B. für Ministerien und Bundestag) sowie Wissenschaft und Forschung.

Jürgen Matthes

Leiter des Clusters Internationale Wirtschaftspolitik, Finanz- und Immobilienmärkte,  Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW)

Rebecca Arcesati

 

Die kommende Bundesregierung kann auf der guten China-Strategie der Ampel-Regierung aufbauen, muss aber deutlich konsequenter und strategischer agieren, da die Ampel hier viel hat mutwillig schleifen lassen.

Aus wirtschaftlicher Sicht sind folgende To-Dos zentral:

  • Um das ökonomische Leitmotiv der China-Strategie - das De-Risking von China – endlich mit Leben zu füllen, braucht es zunächst eine gründliche Analyse, wo wirklich kritische Abhängigkeiten von China bestehen. Dazu sollte die neue Bundesregierung eine regierungsinterne Taskforce schaffen, die solche kritischen Importabhängigkeiten konsequent identifiziert und dabei auch das Wissen der Wirtschaft mit einbindet – so wie es andere Länder wie etwa das Vereinigte Königreich schon längst getan haben. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass Unternehmen genug Anreize haben, ihre kritischen Abhängigkeiten ausreichend zu reduzieren. Sollte hier ein Marktversagen nachweisbar sein, braucht es smarte und möglichst minimalinvasive Staatseingriffe.  
  • Die Untersuchung der Europäischen Kommission über die Förderung chinesischer E-Autos hat einmal mehr bewiesen, dass China seine Wirtschaft auf vielen Ebenen massiv subventioniert. Zudem ist der Yuan-Wechselkurs zum Euro stark unterbewertet gemessen an der seit 2021 massiv gestiegenen Erzeugerpreisdivergenz zwischen Deutschland und China. Darin liegt ein weiterer erheblicher, aber künstlicher Wettbewerbsvorteil. Die teils unfaire Konkurrenz aus China ist in der aktuell schwierigen Lage der deutschen Industrie ein weiterer gravierender Bedrohungsfaktor, wie eine IW-Umfrage aus dem Jahr 2024 deutlich zeigt. Die neue Bundesregierung muss hier gemeinsam mit der Europäischen Kommission agieren, um bedrohten deutschen und europäischen Arbeitsplätzen bei Nachweis regelwidriger Subventionen ein Level Playing Field zu ermöglichen. In solchen Fällen Ausgleichszölle zu erheben, hat nichts mit Protektionismus zu tun. 
  • Ganz grundsätzlich sollte sich die kommende Bundesregierung konsequent dafür einsetzen, dass sich die EU-Mitgliedstaaten nicht wie bisher immer wieder von China spalten und für dessen Zwecke instrumentalisieren lassen. Dafür gilt es zuweilen auch, eigene Interessen zurückzustellen. 

Hanns W. Maull 

MERICS Senior Associate Fellow and Adjunct Professor at the Bologna Center of the John Hopkins School of Advanced International Studies

Rebecca Arcesati

 

Die Erfahrung der letzten Jahre mit der deutschen Russland- wie auch der Chinapolitik legen grundsätzliche Zweifel daran nahe, ob die deutsche Außenpolitik überhaupt strategiefähig ist. Darunter verstehe ich die Fähigkeit, längerfristige Ziele zu definieren und diese kohärent und konsistent über die ganze Bundesregierung hinweg mit allen dafür geeigneten und erforderlichen Mitteln und Instrumenten zu verfolgen.  

Aus einer derartigen Perspektive ist die größte Herausforderung, der sich Deutschland gegenübersieht, der Krieg in der Ukraine und – damit verknüpft – der Aufbau einer europäischen Sicherheitsordnung, die die Sicherheit, den Wohlstand und die demokratische Eigenständigkeit Deutschlands gegenüber dem russischen Aggressor dauerhaft gewährleisten kann.  

Der Umgang mit der Volksrepublik China sollte sich an dieser doppelten Priorität orientieren: Herstellung der außen- und verteidigungspolitischen Strategiefähigkeit im Kontext der europäischen Sicherheitsordnung. Denn China spielt im Ukrainekrieg durch seine massive materielle und diplomatische Unterstützung des Angriffskrieges Putins eine gewichtige Rolle. China bedroht damit indirekt die europäische Sicherheit und belastet die Gesamtheit der Beziehungen zwischen China und Europa.  

Die Fokussierung dieser Beziehungen auf den Wirtschaftsaustausch und die Zusammenarbeit bei globalen Fragen wie dem Klimaschutz ist damit nicht vereinbar; das Beziehungsgeflecht sollte daher insgesamt unter die Perspektive des chinesischen Beitrags zur Bedrohung der europäischen Sicherheit gestellt und dementsprechend neu geordnet werden. Der Begriff des de-risking ist zu allgemein und zu schwach, um die sicherheitspolitische Bedrohung, in der Deutschland und Europa auch durch China schweben, angemessen zu erfassen. Es verwundert daher nicht, dass die Umsetzung des de-risking bislang nur sehr wenig erreicht hat, wenn man sie mit den Größenordnungen der Herausforderung vergleicht.

Für den Umgang mit Partnern ergeben sich aus dieser Perspektive zwei Schlussfolge-rungen. Erstens muss sich die deutsche Außenpolitik im Sinne der oben skizzierten dop-pelten Priorität um die Zusammenführung einer Koalition bemühen, die sowohl Peking und Moskau wie auch Washington gegenüber glaubwürdig auftreten kann, weil sie ernst genommen werden muss. Dies gilt natürlich vor allem für andere europäische Länder, aber auch für Partner in Asien-Pazifik (Japan, Südkorea, ASEAN, Australien).

Die EU der 27 ist dafür durch ihre Schwerfälligkeit und „trojanische Pferde“ wie Ungarn nur bedingt geeignet; es wird also erforderlich sein, innerhalb und über die EU hinaus „Koalitionen der Engagierten“ zu schmieden und diese zu nutzen, um auch die EU voranzubringen. Entscheidend sollte hier die Fähigkeit und die politische Bereitschaft der Partner sein, die Zusammenarbeit in der Koalition durch die Bereitstellung von Ressourcen zu unterstützen. (Deutschland müsste hier mit gutem Beispiel vorangehen).

Ohne das Zusammenwirken in einer solchen Koalition sind alle potenziell daran interessierten Staaten letztlich Peking und Moskau, aber auch den USA ausgeliefert. Über eine solche multilaterale Koalition dagegen bestünde auch für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik die Chance, in den Beziehungen zu den USA und zu China eigene Prioritäten und Ziele zu verfolgen.

Dabei sollten die Prinzipien der liberalen Demokratie als normative Grundlage der Zielsetzungen einbezogen werden: Es geht bei der Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung auch um die Zukunftsperspektiven der demokratischen Ordnung im Inneren. Ob die USA unter Präsident Trump dieser Grundlage weiter verpflichtet bleiben, ist ungewiss. Allerdings könnte sich die amerikanische Demokratie dennoch behaupten und nach 2029 erneuern. Dies sollte in den Beziehungen zu Washington im Auge behalten werden.  

Grundsätzlich sollte jedoch in der Orientierung zwischen Washington und Peking in den kommenden vier Jahren jeweils von Fall zu Fall entschieden werden, mit welchem der beiden gemeinsame Interessen der multilateralen Koalition am besten zu realisieren sind. Auch dies setzt Strategiefähigkeit voraus – nicht nur für Deutschland, sondern auch für eine solche Koalition.


Logos China Horizons, Funded by the European Union

This MERICS Forum is part of the “Dealing with a Resurgent China” (DWARC) project, which has received funding from the European Union’s Horizon Europe research and innovation programme under grant agreement number 101061700. 

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