Debatten über Chinas Globale Sicherheitsinitiative, ChatGPT und Gleichstellung unehelicher Kinder
Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.
Auf einen Blick
Nach einem langen Jahr der Covid-Einschränkungen steht für Chinas Bürger:innen die Rückkehr zur Normalität im Vordergrund. Staatliche Zensuranweisungen forcieren dies, indem Beiträge über Armut und Auswirkungen der Null-Covid-Politik vielfach gelöscht werden. Chinas Führung fokussiert auf die wirtschaftliche und politische Stabilität im Inneren, aber auch Chinas langfristige Wettbewerbsfähigkeit und internationale Position: Von neuen Ansätzen in der Geburtenplanungspolitik, über technologische Entwicklung- und Normensetzung bis zur Definition von Chinas globaler sicherheitspolitischer Rolle.
Chinas Rolle in der Welt
„Katalysator für Frieden“: Chinesische Expert:innen loben Chinas globale Sicherheitsinitiative
Ein Jahr nachdem Xi Jinping Chinas neue Globale Sicherheitsinitiative ausrief, nimmt diese langsam Gestalt an. Neben einem neuen Konzeptpapier wurden in den letzten Wochen auch Erfolge in der diplomatischen Vermittlung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, sowie andere diplomatische Bemühungen als Erfolge der Initiative gefeiert. Chinesische Expert:innen im Bereich Internationale Beziehungen loben die neuen Entwicklungen. Durch seine unvoreingenommene und pragmatische Position biete China eine Alternative zum Westen und könne zu einer „Welle der Versöhnung“ beitragen – auch wenn konkrete Schritte und die Nachhaltigkeit der Vermittlungsschritte noch unklar sind.
Chinas digitale Transformation
Mehr Begeisterung statt Sorgen um ChatGPT
ChatGPT ist in China zwar offiziell gesperrt, doch fanden viele tech-affine Netizens Wege, Zugang zu erhalten. Nutzer:innen teilen Erfahrungen und diskutieren die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen neuer KI-gestützter Chatbot-Technologien. Während ein Teil der Nutzer:innen Risiken für Werktätige sieht, überwiegen neutrale bis optimistische Stimmen, die die Zukunftschancen betonen. Auch Chinas Tech-Unternehmen bringen ihre eigenen Anwendungen auf den Markt. China hat nun als eines der ersten Länder Regularien zu generativer KI verabschiedet – und ist bemüht, die Nutzung und Diskussion im Zaum zu halten.
Chinas Zukunft
Netizens sind skeptisch über Gleichstellung unehelicher Kinder
Die Provinz Sichuan hat ihre Geburtenplanungspolitik weiter liberalisiert. Dort dürfen nun auch Kinder registriert werden, deren Eltern nicht verheiratet sind. Die Änderung reduziert die strukturelle Diskriminierung unehelicher Kinder, stößt in Online-Debatten auf Weibo aber auch auf viel Ablehnung. Neben Sorge vor einem „moralischen Verfall“ zeigen Beiträge, dass finanzielle Herausforderungen und mangelnde staatliche Unterstützung die chinesische Familienplanung und Einstellung zur Ehe bestimmen.
Einleitung
In den ersten Monaten des Jahres 2023 folgte ein hochrangiger Besuch europäischer Politiker:innen in China auf den anderen. Allein im März und April besuchten der spanische Premier Pedro Sánchez Pérez-Castejón, der französische Präsident Emmanuel Macron, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sowie die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die Volksrepublik. Im Mai reiste dann der chinesische Außenminister Qin Gang nach Frankreich, Deutschland und Norwegen.
Trotz der wechselseitigen Besuche sind die Beziehungen gezeichnet von Interessensund Wertekonflikten. Noch immer ist das Schicksal von dutzenden chinesischen Bürger:innen ungeklärt, die im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten gegen die harte Null-Covid-Politik Ende letzten Jahres festgenommen wurden. Die jüngsten Besuche europäischer Politiker:innen wurden außerdem von einer weiteren Verhaftungswelle und Verurteilungen von Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und Bürger:innen überschattet.
Gesetzesnovellen, wie die Ausweitung des Anti-Spionage-Gesetzes, die am 1. Juli 2023 in Kraft tritt, erhöhen durch schwammige Paragraphen das Risiko, dass Journalist:innen, Forschende oder auch Analysten in der Privatwirtschaft aufgrund von Recherchen der Spionage bezichtigt werden könnten. Dies erschwert den Zugang zu Informationen über Chinas wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung. Auch Chinas anhaltende Rückendeckung für den Partner Russland sorgt in vielen EU-Mitgliedsstaaten für Verstimmung.
Gleich mehrere Staaten, darunter Deutschland, arbeiten derzeit an ihren China-Strategien und diskutieren den Umgang mit dem „Partner, Wettbewerber und Systemrivalen“, in Anlehnung an den 2019 von der EU formulierten Dreiklang. Die chinesische Führung stellt sich gleichzeitig offensiv dem Wettstreit der Werte und Systeme. Seit Ende 2021 hat Xi Jinping erst die Globale Entwicklungsinitiative, dann im April 2022 die Globale Sicherheitsinitiative und Ende März 2023 die Globale Zivilisationsinitiative ins Leben gerufen. Die drei Initiativen bieten der Weltgemeinschaft ein alternatives Entwicklungskonzept an, das Beijing dezidiert vom Werterahmen der liberalen Demokratien abgegrenzt.
In den vergangenen Monaten verlieh die chinesische Führung insbesondere der Globalen Sicherheitsinitiative Gestalt. Ein neues Konzeptpapier, Chinas Position zur Ukraine, der erfolgreiche Vermittlungsversuch zwischen Saudi-Arabien und Iran – all dies wird von vielen chinesischen Kommentator:innen mit Lob bedacht. In jedem Fall hat China die Ambition und das Potential, eine stärkere Rolle als sicherheitspolitischer Akteur zu spielen.
Auch die digitale Normensetzung will China aktiv mitgestalten. Im April 2023 verabschiedete Chinas oberste Internet-Aufsichtsbehörde als eines der ersten Länder vorläufige Regulierungen zum Umgang mit generativer Künstlicher Intelligenz (KI), die maschinelles Lernen und Algorithmen nutzt, um Texte, Bilder, Videos und sogar Musik zu erzeugen. Wie in Deutschland und andernorts diskutieren chinesische Expert:innen und Bürger:innen den transformativen Effekt von ChatGPT und ähnlichen Anwendungen auf die Zukunft des Arbeitens, auf Medien und die breitere Gesellschaft. Chinesische Unternehmen wie Baidu und Alibaba haben erst Wochen nach OpenAI ihre Versionen von ChatGPT präsentiert. Doch die staatlichen Ziele für den Einsatz dieser neuen Technologien sind bereits abgesteckt. Sie sollen Effizienz in der Wirtschaft steigern und gleichzeitig politische Kontrolle gewährleisten. So fordern die neuen Regelungen beispielsweise, dass generierte Inhalte sozialistischen Kernwerten entsprechen müssen.
Bei allen geopolitischen und technologischen Ambitionen: Der Fokus des chinesischen Parteistaats liegt in diesem Jahr primär auf wirtschaftlicher und politischer Stabilität. Im Herbst 2023 steht das wichtige dritte Plenum der Kommunistischen Partei Chinas zur mittel- bis langfristigen Wirtschaftsentwicklung an, auf dem die Leitlinien für Xis dritte Amtszeit gesetzt werden. Zwar hat sich die Wirtschaft nach dem Ende der Null-Covid-Politik wieder stabilisiert. Doch Jugendarbeitslosigkeit, dezimierte Ersparnisse und Spannungen im internationalen Handel bereiten Probleme, die komplexe politische Lösungen erfordern.
Gleichzeitig muss sich China einer großen strukturellen Herausforderung stellen: dem demografischen Wandel. Die Regierung versucht mit weiteren Lockerungen der Geburtenplanungspolitik die schnelle Alterung und das Schrumpfen der Bevölkerung in den kommenden Dekaden abzudämpfen. Die Skepsis der Kommentatoren in sozialen Medien zeigt allerdings, dass dies kein leichtes Unterfangen wird. Sowohl tief in der chinesischen Gesellschaft verankerte traditionelle Werte als auch fehlende staatliche Unterstützung und positive Anreize für junge Eltern sorgen dafür, dass neue rechtliche Möglichkeiten zur Planung einer größeren Familie nur verhalten aufgenommen werden.
Während es über weite Teile des Jahres 2022 in den sozialen Medien brodelte, scheint mit dem Ende der Null-Covid-Politik die Kritik an der Regierung und das akute Protestpotential zunächst verpufft. Doch die Führung ist offensichtlich besorgt: Im März 2023 wurde eine neue zentrale Abteilung der KPC für „gesellschaftliche Arbeit“ gegründet, die sich sowohl mit der Lage von klein- und mittelständischen Unternehmen als auch mit Petitionen, also Beschwerden von Bürger:innen, befassen soll.
Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen der Pandemie und des drastischen Umschwungs im Umgang mit Covid-19 in Medien, Forschung und öffentlichen Debatten durch Zensur unterbunden. Die kommenden Monate werden zeigen, ob das verordnete Vergessen Erfolg hat – und die Bevölkerung wieder optimistischer in die Zukunft blickt.
Chinas Rolle in der Welt
„Katalysator für Frieden“: Chinesische Expert:innen loben Chinas globale Sicherheitsinitiative
Im April 2022 stellte Staats- und Parteichef Xi Jinping Chinas neue Globale Sicherheitsinitiative (GSI) beim „Boao Forum for Asia“ vor, einem seit 2008 von China ausgerichteten Gipfeltreffen. China biete mit der GSI einen neuen Ansatz, internationale Konflikte und Sicherheitsherausforderungen zu lösen, erklärte das chinesische Außenministerium. Beim diesjährigen Boao Forum wurden so auch gleich erste Erfolge gefeiert: Mehr als 80 Länder und internationale Organisationen hätten bereits ihre Unterstützung für die GSI ausgedrückt, hieß es.
Die GSI ist Teil eines Dreigespanns von Initiativen, zu dem auch die Globale Entwicklungsinitiative (2022) und die Globale Zivilisationsinitiative (2023) gehören (siehe Infobox). Ähnlich wie vor zehn Jahren bei der Seidenstraßeninitiative blieb anfangs vage, wie die Führung in Beijing das neue internationale Großprojekt ausgestalten wolle.
Doch dies ändert sich nun: Im Februar 2023 veröffentlichte das chinesische Außenministerium ein Konzeptpapier, in dem Prinzipien, Prioritäten und Plattformen der GSI erläutert werden. Darin bekennt sich die chinesische Regierung zwar zu den Grundprinzipien der Vereinten Nationen, betont aber vor allem die Souveränität und Sicherheitsinteressen der individuellen Staaten. In einem „echten Multilateralismus“ sollten Differenzen durch Dialog ausgeräumt werden – statt durch Sanktionen oder Intervention in Krisengebieten.
Die chinesische Führung will ihre angestrebte tragende Rolle in der globalen Sicherheitspolitik nicht nur mit Worten, sondern auch mit konkreten Schritten ausfüllen:
- Zum Jahrestag der russischen Invasion veröffentlichte das chinesische Außenministerium Ende Februar 2023 „Chinas Position zur politischen Beilegung der Ukraine Krise“ mit zwölf Punkten.
- Anfang März 2023 vermittelte China erfolgreich zwischen dem Königreich Saudi-Arabien und der Islamischen Republik Iran. Eine trilaterale Erklärung legte den Grundstein zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen.
- Der chinesische Außenminister verkündete im April 2023 die Bereitschaft der Volksrepublik, zwischen Israel und Palästina zu vermitteln.
Die neuen Entwicklungen wurden sowohl in der Presse, als auch von Expert:innen im Bereich internationale Beziehungen kommentiert.
Globale Entwicklungsinitiative (全球发展倡议)
Im September 2021 kündigte Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping im Rahmen einer UN-Generalversammlung die Globale Entwicklungsinitiative an. Die Initiative soll zur Erreichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) beitragen. Sie ist aber auch ein Nachfolgeprogramm von Chinas Seidenstraßeninitiative und wirbt für wirtschaftliche Entwicklung nach chinesischem Modell.
Globale Sicherheitsinitiative (全球安全倡议)
Im April 2022 legte Xi beim Boao Forum for Asia nach und kündigte die Globale Sicherheitsinitiative an. Der Ansatz der Initiative wurde im Februar 2023 in einem Konzeptpapier weiter ausgeführt: Staaten kooperieren international zum Schutz der Sicherheit, aber mischen sich nicht in innere Angelegenheiten ein.
Globale Zivilisationsinitiative (全球文明倡议)
Zuletzt rief Xi im März 2023 die Globale Zivilisationsinitiative aus. In der offiziellen Kommunikation dazu wird die Diversität von Kulturen, Werten und politischen Systemen betont. Ebenso wie in der Sicherheitsinitiative liegt der Fokus auf Dialog, Toleranz und Nichteinmischung. Chinas Entwicklungsmodell und Werteverständnis werden als Alternativen zur westlichen Wertehegemonie angepriesen, dem Anspruch universeller Werte wird eine Absage erteilt.
China bietet laut Expert:innen eine Alternative zu Ansätzen westlicher Staaten
Expert:innen von chinesischen Universitäten und Forschungsinstituten wurden in den vergangenen Monaten viel zur Frage zitiert, was die GSI für Chinas außenpolitische Ambitionen und die internationale Gemeinschaft bedeute. Beiträge und Zitate finden sich vor allem in Staatsmedien und Analysen von Forschungsinstituten, die anlässlich neuer Entwicklungen rund um Xis Vorzeigeinitiative veröffentlicht wurden. Es verwundert also nicht, dass die Einschätzungen überwiegend positiv und eng mit der staatlichen Position verhaftet sind. Manche Kommentator:innen haben ihre Texte auch in sozialen Medien wie WeChat geteilt und sprechen damit durchaus eine breitere Öffentlichkeit an.
Eine Analyse der Expert:innenstimmen schafft trotz der Nähe zur staatlichen Position ein besseres Verständnis der Potentiale und Besonderheiten von Chinas neuer Rolle. Für die nachstehende Übersicht an Einschätzungen zur GSI wurden 25 Beiträge oder längere Medienzitate von Forscher:innen oder Führungspersonen an Universitäten und staatlichen Forschungsinstituten ausgewertet, die zwischen dem 12. Februar und 19. April 2023 veröffentlicht wurden.
Vorteile gegenüber bestehenden Initiativen
Viele der Kommentator:innen stimmen der offiziellen Darstellung zu, dass Chinas Beziehungen zu vielen Ländern im Gegensatz zu den USA und anderen westlichen Staaten nicht vorbelastet sind. Mit seinen pragmatischen Lösungen und seinem Fokus auf Infrastruktur und anderen öffentlichen Gütern stehe die Volksrepublik für einen neuen Ansatz, Sicherheit zu schaffen. Viele der Analysen betonen allerdings eher die Unzulänglichkeiten der USA, als alternative Strategien der Konfliktlösung zu diskutieren.
„In einer Zeit, in der die USA die globale öffentliche Meinung und Agenda dominieren, ist es für China wichtig, pragmatische chinesische Lösungen für friedliche Entwicklung und globale Governance zu entwickeln.“
“At a time when the US dominates global public opinion and agendas, it is critical for China to develop pragmatic Chinese solutions for peaceful development and global governance.”
Zhu Weilie (朱威烈), Professor, Middle East Studies Institute, Shanghai International Studies University (SISU)
„Der Aufbau der Schicksalsgemeinschaft der Menschheit bedeutet, mit der wertebasierten Diplomatie der westlichen Länder zu brechen, die im Namen der Demokratie in Wahrheit, Containment und Unterdrückung verfolgen, um alle Länder der Welt zu vereinen.“
构建人类命运共同体,就是要打破西方国家所推行的价值外交,改变西方国家以民主外交为名行遏制打压之实,把世界各国团结起来。
Liu Zhenmin, (刘振民), ehemaliger Untergeneralsekretär der UN
„Dieses neue Sicherheitskonzept geht über traditionelle westliche Sicherheitskonzepte, die Logik westlicher Machtpolitik und das vom Westen seit Langem verfolgte Nullsummenspiel bei Sicherheitsfragen hinaus, und gibt der internationalen Gemeinschaft grundlegende Leitlinien für den Umgang mit Sicherheitsherausforderungen an die Hand.“
这一新安全观超越了西方传统安全理念,超越了西方强权政治安全逻辑,超越了西方长期以来抱守的零和博弈安全思维,为国际社会应对安全挑战提供了根本遵循。
Wu Xiaodan (吴晓丹), Forscher, Center for the Study of Xi Jinping Diplomatic Thought, China Institute of International Studies (CIIS)
Blick nach vorn für Russland und Ukraine
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine heben die Expert:innen das Zwölf-Punkte-Papier als positiven Beitrag zur GSI hervor. Es zeuge von Chinas Rolle als Großmacht, die sich für Entwicklung und Stabilität in der Welt engagiere. China wolle die Ursachen des Krieges bekämpfen – wie und was diese sind, bleibt allerdings ungesagt. Der Fokus liegt stattdessen auf Chinas Unparteilichkeit und möglicher Rolle beim Wiederaufbau.
„Das von China veröffentlichte Dokument zur Krise in der Ukraine ist eine konkrete Maßnahme Chinas, um die globale Sicherheitsinitiative umzusetzen. Sie ist Ausdruck einer verantwortungsvollen Großmacht. [...] Im Gegensatz dazu sind die USA nicht mehr in der Lage, der Welt nützliche öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen.“
中国发布的涉及乌克兰危机的文件,就是中国践行全球安全倡议的具体行动,是负责任大国的体现。[...] 反观美国已经无法为世界提供有益的公共产品
Li Ziguo (李自国), Direktor und assoziierter Forscher des Instituts für Eurasienstudien, CIIS
„Im vergangenen Jahr hat China angesichts der Krise in der Ukraine stets die Grundprinzipien der Objektivität und Unparteilichkeit aufrechterhalten. [China] hat davon abgesehen, die Fäden zu ziehen oder Öl ins Feuer zu gießen, ganz zu schweigen davon, die Gelegenheit zu nutzen, um Gewinne zu machen [...]“
一年来,面对乌克兰危机,中国始终秉持客观公正的基本原则,不拉偏架、不火上浇油,更不趁机牟利 [...]
Yang Chenxi (杨晨曦), Stellvertretender Direktor, China Academy of International Studies
„Der Wiederaufbau nach dem Krieg beinhaltet viele sicherheitspolitische Aspekte. Dass China als verantwortungsbewusste Macht jetzt den Wiederaufbau nach dem Krieg thematisiert, ist meiner Meinung nach Ausdruck der Tatsache, dass es hierbei um internationale ethische Standards und die gemeinsamen Interessen der internationalen Gemeinschaft geht [...]. Es sollte ein Prozess sein, der die aktive Beteiligung aller Parteien mobilisieren kann.“
战后重建还包括安全政治各个方面,所以中方作为一个负责任的大国,我觉得在这个时候提出战后重建,实际上是表达了战后重建这个事情它是基于国际道义,同时也是基于国际社会的共同利益 [...],应该是一个能够调动各方积极力量都参与进来的这样一个进程
Cui Hongjian (崔洪建), Direktor des Instituts für Europastudien, CIIS
Erfolg mit Saudi-Arabien und Iran
Laut Expert:innen spielt Nichteinmischung als Grundsatz der Außenpolitik eine wichtige Rolle bei Chinas erfolgreicher Vermittlung. China ergreife keine Partei, unterhalte ausgewogene Beziehungen zu allen Beteiligten und sei daher glaubwürdig – auch wenn sich die Nachhaltigkeit der Vermittlung noch zeigen müsse.
„Der Iran und Saudi-Arabien haben große Anstrengungen unternommen, um den [diplomatischen] Durchbruch zu erlangen. Doch auch China hat dazu beigetragen, Länder in der Region zu koordinieren, um diese dornige Angelegenheit zu regeln. Das verdeutlicht Chinas zunehmenden regionalen und globalen Einfluss.”
“On top of the great efforts made by Iran and Saudi Arabia to make the breakthrough, China has also contributed to coordinating regional countries in settling thorny issues. This also highlights China’s increasing influence in the region and globally.”
Zhu Yongbiao (朱永彪), Direktor des Zentrums für Afghanistan-Studien an der Universität Lanzhou
„Chinas Fähigkeit, das Vertrauen beider Länder zu gewinnen, ist untrennbar mit den Grundsätzen seiner Nahost-Außenpolitik verbunden [...]. Dies bedeutet, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Länder des Nahen Ostens einzumischen, in Konflikten keine Partei zu ergreifen und ausgewogene diplomatische Beziehungen zu allen Ländern zu unterhalten, um bei der Vermittlung eine unabhängige und glaubwürdige Haltung einnehmen zu können.“
中国之所以能赢得两国信任,[...],这与中国始终秉持的中东外交政策原则密不可分。即不干涉中东国家内政、在中东地区矛盾中不选边战、与所有国家保持平衡的外交关系,这样在调停时才能维持独立、可信的态度。
Niu Xinchun (牛新春), Professor & Direktor, Middle East Studies Institute, China Institute of Contemporary International Relations (CICIR)
„Welche Garantien kann China bereitstellen, wenn eine der Parteien das Abkommen nicht respektiert? Obwohl Saudi-Arabien und Iran ein Abkommen beschlossen haben, um ihre Beziehungen zu normalisieren, sind ehrlich gesagt die Widersprüche zwischen den Ländern noch deutlich sichtbar.“
“What kind of guarantees will China provide if one of the parties does not respect the agreement? Frankly speaking, although Saudi Arabia and Iran have reached an agreement to normalize relations, the contradictions between the two countries are still clearly visible.”
Fan Hongda (范鸿达), Professor, Middle East Studies Institute, SISU
Chinas Zukunftspotential als Friedenstifter
Beflügelt vom jüngsten diplomatischen Erfolg im Nahen Osten bescheinigen Expert:innen der GSI ein großes Potential. Diese könne zur Stabilisierung und Entspannung im Nahen Osten und darüber hinaus beitragen. Konkret wurde die Möglichkeit von Chinas Vermittlung zwischen Israel und Palästina genannt.
„Der Katalysator-Effekt der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Iran zeichnet sich bereits ab. Die Entspannung der Beziehungen zwischen Syrien, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, das Treffen der Außenminister Ägyptens und der Türkei sowie die Friedensgespräche zwischen den Huthi-Streitkräften im Jemen und Saudi-Arabien sind eine natürliche Folge. Noch wichtiger ist, dass Chinas globale Sicherheitsinitiative dem starken Wunsch der Länder des Nahen Ostens nach Frieden, Stabilität und Entwicklung entspricht [...].“
“沙依复交的外溢效应’正在快速显现。叙利亚和沙特、阿联酋的关系出现缓和,埃及和土耳其两国外长会面,也门胡塞武装同沙特和谈,都是水到渠成的事。更重要的是,中国提出的全球安全倡议顺应中东国家追求和平、稳定、发展的强烈愿望 (...).”
Liu Xinlu (刘欣路), Direktor der Akademie für Arabistik der Pekinger Universität für Auslandsstudien
„Die ‚Welle der Versöhnung‘ ist kein zufälliges Phänomen, sondern das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen dem internationalen Umfeld und der Situation im Nahen Ostens. In den letzten Jahren sind die Beziehungen zwischen China und den USA in eine Ära des strategischen Wettbewerbs eingetreten [...]. Vor diesem Hintergrund streben alle Länder nach einer vorteilhaften Position.“
“和解潮”不是一个偶然现象,而是国际大环境和中东小环境交互作用的结果。近年来,中美关系进入战略竞争时代,[...]。在此背景下,各个国家都在寻找有利位置。“
Niu Xinchun (牛新春), Professor & Direktor, Institut für Nah-Ost-Studien, CICIR
Chinas neue Rolle als sicherheitspolitischer Akteur bietet Potentiale – doch Details bleiben unscharf
Die vergangenen Monate haben das Selbstbewusstsein der chinesischen Regierung und die Eigenwahrnehmung des Landes in der neuen Rolle als sicherheitspolitischer Akteur sichtlich gesteigert, wie die von Kommentator:innen mehrfach geäußerte Hoffnung auf eine von China initiierte „Welle der Versöhnung“ (和解潮) zeigt.
Ähnlich wie bei der Seidenstraßeninitiative blieb die konkrete Ausgestaltung der GSI zunächst schwammig, nimmt nun jedoch schnell Gestalt an und sollte daher nicht unterschätzt werden. Chinesische Expert:innen haben zudem Recht, wenn sie feststellen, dass China ein noch unbelasteter Akteur ist. Gerade im Globalen Süden wird China mit seinen Angeboten und Initiativen durchaus positiv wahrgenommen, da China ein Gegengewicht zu den USA darstellt, selten Position bezieht und vor allem Investment und Entwicklung ohne die harten Bedingungen der westlichen Staaten in Aussicht stellt.
Chinas Beitrag zur internationalen Friedenssicherung ist sicherlich wünschenswert, doch Beijings Schwerpunkt auf Vermittlung, Entwicklung und Nichteinmischung in Chinas Vision einer „internationalen Sicherheitsgemeinschaft“ birgt durchaus Herausforderungen und Lücken. So liegt der Fokus des Positionspapiers zur Ukraine zwar auf der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen, Eindämmung nuklearer Risiken und Wiederaufbau. Gleichzeitig mahnt Beijing Dialog, Stopp der Sanktionen und „Respekt für die Sicherheitsinteressen aller Staaten“ an – und unterstützt damit die Argumentation Russlands.
Als nachdrücklicher Vermittler gegenüber dem Aggressor Russland ist China daher nicht zu erwarten. UN-Resolutionen zur Beendigung des Ukraine-Krieges enthält sich China bisher. Nach wie vor vermeiden das chinesische Außenministerium und die Staatspresse den Begriff „Krieg“. Während Xi und hohe Beamte Gespräche mit Putin und russischen Amtskolleg:innen pflegten und die beiden Staaten als Kräfte für den Frieden feierten, fand erst mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch ein Telefonat zwischen Chinas Partei- und Staatsoberhaupt und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj statt.
Die chinesische Führung schickte im Mai den Sondergesandten Li Hui nach Kiev, um eine stärkere Rolle als Vermittler einzunehmen. Doch Chinas Expert:innen halten sich bislang bedeckt, wie Chinas konkreter Beitrag zur Konfliktbeilegung und der Weg nach vorne aussehen könnten.
China konnte in der Beilegung des Konflikts zwischen Saudi-Arabien und dem Iran Erfolge vorweisen und bietet sich seitdem stärker als neutraler Vermittler an. Offen bleibt, ob China bei Nichteinhaltung der getroffenen Vereinbarungen bereit ist, Konsequenzen durchzusetzen. Zudem stellt sich die Frage, wie Chinas Grundsatz der Nichteinmischung und absoluten staatlichen Souveränität mit Blick auf innerstaatliche Konflikte, wie z.B. im Sudan, Chinas neue Rolle als globaler Sicherheitsakteur beeinflussen wird. Sowohl staatliche Stellen als auch Expert:innen sind dazu bisher weitestgehend stumm geblieben.
Chinas eigene wirtschaftliche und geopolitische Interessen – von Chinas Energie- und Rohstoffsicherheit, zur Überstützung für Russland als Gegengewicht der USA – werden in einer als „neutral“ deklarierten internationalen Vermittlung ebenfalls außenvorgelassen. Doch angesichts der wachsenden globalen Ambitionen Chinas wird auch die Weltöffentlichkeit stärker auf die Motivationen und die Handlungsfähigkeit der Volksrepublik in derartigen diplomatischen Situationen blicken.
Weiterführende Informationen:
- China’s Global Security Initiative | GMF China Global Podcast
- China und Russland: Die Warnung der USA | Arte, Mit offenen Karten
- China und der Iran: Ein neues Bündnis? | Arte, Mit offenen Karten
- Ukraine-Krieg: Chinas doppeltes Spiel | Arte
- China-brokered Saudi-Iran Deal: Chinese Experts React | Sinification
- The peace plan that wasn’t | Merics
Chinas digitale Transformation
Mehr Begeisterung statt Sorgen um ChatGPT
Die neue KI-Technologie ChatGPT der US- Firma OpenAI ist auch in China aufmerksam verfolgt worden. Wang Zhigang (王志刚), Minister für Wissenschaft und Technologie, zeigte sich beindruckt von dem Durchbruch. Denn neben Baidu und Alibaba, die bereits chinesische Pendants auf den Markt gebracht haben, arbeiten aktuell zwar noch rund ein Dutzend weitere chinesische Firmen an vergleichbaren Technologien. Allerdings hinkt die chinesische Entwicklung der in den USA noch hinterher. „Es ist wie beim Fußball, jeder kennt die Regeln, [...] aber es ist nicht einfach, so gut wie Messi zu sein”, sagte Wang Anfang März 2023.
Der von der chinesische Cyberadministration am 11. April 2023 veröffentlichte Entwurf für neue Regularien zu generativer KI ist international führend in dem Bestreben, die neue Technologie zu regulieren und das Erstellen von Falschinformationen zu untersagen. Zugleich spiegeln die Regularien auch den politischen Kontrollreflex Beijings wider. Inhalte müssen im Einklang mit den „Kernwerten des Sozialismus“ stehen und dürfen nichts enthalten, das „die Staatsmacht untergräbt“ oder „die wirtschaftliche oder soziale Ordnung in Frage stellt“. Entwickler in China müssen neben den technischen auch die politischen Anforderungen der Staatsregierung mitberücksichtigen.
Von „Allheilmittel“ bis „Büchse der Pandora“: Chinas Internetnutzer:innen diskutieren ChatGPT
Der Chatbot von OpenAI ist in China nur über einen VPN zu erreichen, die Nutzung der KI ist nicht legal möglich. Dies hält viele Chines:innen dennoch nicht davon ab, sich Zugang zu ChatGPT zu verschaffen und die neue Technologie lebhaft zu diskutieren. Nicht nur die IT-Branche, sondern ein breites Publikum ist an den Debatten beteiligt. Durch die Auswertung von 530 Weibo-Kommentaren, in denen unterschiedliche Aspekte diskutiert werden, können wir drei grundsätzliche Haltungen gegenüber der KI-gestützten Chatbot-Anwendung identifizieren1. Rund 32% der Weibo-Nutzer:innen sind optimistisch eingestellt und sehen in der KI eine Zukunftschance. Bei 15% der Nutzer:innen überwiegen die Sorgen vor den gesellschaftlichen Folgen und Zukunftsängste stehen im Vordergrund. 53% der Kommentierenden nehmen eine neutrale Position ein.
KI als Zukunftschance
KI wird als neuer Wachstumsmotor für China gesehen.
„[...] KI stellt in diesem Fall eine disruptive Innovation dar, die die Produktivität steigern kann. In den letzten Jahren war es schwierig, die Effizienz mit den bestehenden Modellen zu steigern, daher sehen wir, dass die Wachstumsraten der großen Volkswirtschaften zurückgehen und sich gegenseitig beeinträchtigen. Die Einführung von ChatGPT zeigt uns jedoch eine Möglichkeit, die Produktivität zu steigern.“
(...) 是因为这次AI出现颠覆性创新,是能提升生产效率的创新,最近好多年,已经无法通过现有模式提升效率了,所以我们看到大的经济体经济增速放缓,相互卷,而ChatGPT的出现,让大家看到了提升生产效率的可能 。
Jiaoyizhejianfang, 24.02.2023
ChatGPT und ähnliche Technologien wecken Hoffnung auf neue Kreativität und Fortschritte in Wissenschaft und Forschung.
„Die KI-Technologie hinter ChatGPT hat das Potenzial, eine Veränderung zu bewirken, die unsere Vorstellungskraft übersteigt und geradezu übermenschliche Kräfte hat. Die KI-Technologie hat bereits zu Durchbrüchen in der Strukturbiologie geführt.“
chatgpt背后的AI技术,能带来超越想象的变革,有成神的潜力。结构生物学,已经被AI技术攻破。
Wujiwujilingyu, 09.03.2023
„ChatGPT ist ein chattender KI-Roboter, der nicht nur Manuskripte verfasst, Illustrationen erstellt und Code schreibt, sondern auch Bugs findet, Musik komponiert und Gedichte schreibt... die Funktionen sind so mächtig!“
最近ChatGPT火爆网络,这个会聊天的AI机器人不仅会写稿作图写代码,还会找BUG、谱曲、写诗...功能如此强大。Chongqingbus, 10.02.2023
KI als gesellschaftliches Risiko
Chinesische Bürger:innen haben Angst vor der Verbreitung von Falschinformation und einem Deutungsmonopol von KI-Chatbots.
„ChatGPT tut so, als wäre es ein Experte in jeder Angelegenheit. Es gibt vor, alles zu wissen, bis es in Bereiche kommt, die dem Benutzer vertraut sind. Wenn es auf Fehler hingewiesen wird, gibt es zu, nur ein Sprachmodell zu sein und weist darauf hin, dass wir nachsichtig sein sollen. [Der Bot ist] wie ein mittelalter selbsternannter Weiser.“
ChatGPT 假装理中客语气* 显得上知天文下知地理* 不懂就开始天花乱坠瞎编,直到说到了用户熟悉的领域* 当被指出错误的时候勇于承认并表示“我就是个语言模型啊”,暗示大家要宽容结论:是个中年国师大V。
Yige, 07.03.2023
Vielfach werden Bedenken bezüglich der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt genannt.
„In China gibt es viele Absolventen der Geisteswissenschaften, die keine anständige Arbeit finden können und deren Eltern sich deshalb Sorgen machen. ChatGPT wird es für sie nur schwieriger machen, einen Job zu finden.“
中国多的是大学毕业的文科小白领找不到体面工作,愁坏了父母。chatGPT只会让他们找工作更难。
Chengyichong, 10.02.2023
Zensur rund um ChatGPT
Trotz der lebhaften öffentlichen Debatte: nicht alles darf gesagt werden. Mit Hilfe von Daten der Webseite „FreeWeibo“ konnten wir einen Überblick über zensierte Inhalte zum Thema ChatGPT gewinnen. Wenig überraschend ist die Löschung von Beiträgen zu Themen wie der Kritik an der mangelnden Innovationskraft Chinas (22% der zensierten Beiträge) oder politisch sensitive Fragen an den Chatbot (19%). So war „Ist Xi Jinping ein Diktator?“ eine beliebte Frage chinesischer Nutzer an ChatGPT. Anfangs beantwortete die KI diese Frage noch eindeutig mit „Ja“, inzwischen nimmt sie jedoch eine ambivalente Position ein. Wer den Chatbot zur neuen Antwort bewegt hat, ist unklar.
Auch Weibo-Diskussionen über soziale Konsequenzen der Nutzung von ChatGPT, z.B. Arbeitslosigkeit oder Vereinsamung, wurden teilweise von dem Plattformdienst gelöscht. Dies zeigt die ambivalente Haltung der Regierung. Die Behörden dulden zwar zurzeit die Nutzung von ChatGPT. Gleichzeitig versuchen sie, zu verhindern, dass das Thema auf Weibo eine große Reichweite erlangt.
Schließlich bedeutet die Beliebtheit einer KI-Firma aus den USA nicht nur einen Gesichtsverlust für die chinesische KI-Industrie, sondern bringt auch Sicherheitsproblematiken mit sich. In Gansu wurde Anfang April ein Mann verhaftet, nachdem er mit ChatGPT eine Falschmeldung über ein Zugunglück verfasst haben soll. So werden auch Tutorials und kostenpflichtige Angebote zur Umgehung des Nutzungsverbots (z.B. VPN oder Dienstleister im Ausland) von Weibo entfernt.
Positive Reaktionen der chinesischen Netizens setzen Regierung unter Zugzwang
Die Haltung der chinesischen Netizens zu ChatGPT ist eher pragmatisch. Trotz einiger Zukunftsängste sind die meisten öffentlich sichtbaren Weibo-Beiträge von Gelassenheit geprägt, auch wenn sich der Grad der Zensur bei dem Thema nicht genau bestimmen lässt. Die öffentliche Diskussion wird sicher noch weiter an Fahrt aufnehmen, nun da nach und nach ähnliche Anwendungen von chinesischen Unternehmen auf den Markt gebracht werden. Ähnlich wie in Europa sind die Effekte auf den Arbeitsmarkt und auf Individuen noch nicht abzuschätzen.
Die chinesische Regierung mag bei der Regulierung ein Vorreiter sein, auch um die politische Deutungshoheit in Chinas Medienlandschaft sicherzustellen. Doch sie sieht sich scheinbar davon herausgefordert, dass die USA vor China eine solche Technologie auf den Markt gebracht haben. Dass die chinesischen Chatbot-Varianten bis dato eher wenig überzeugen, verwundert bei oberflächlicher Betrachtung vor dem Hintergrund der enormen Investitionen und der Erfolgsrhetorik der chinesischen Regierung im Technologiesektor.
Auch haben sowohl der Staat als auch Unternehmen in China Zugang zu einer großen Menge an Daten – einer der Wettbewerbsvorteile Chinas. Diese Daten beinhalten im Vergleich zu europäischen und anderen Staaten mit strikteren Datenschutzgesetzen auch mehr personenbezogene Informationen. Die Datensätze ermöglichen es den chinesischen KI-Firmen, innovative staatliche und kommerzielle Anwendungen zu entwickeln, auch wenn der Vorteil in Zukunft durch die Nutzung von synthetischen Datensätzen zum Training von KI eingeebnet werden könnte.
Ein großes Problem für die chinesischen Entwickler ist, dass die drei Jahre andauernden Covid-Eindämmungsmaßnahmen essenziellen „Kapital- und Wissensaustausch verhindert“ haben, so Yin Qi (印奇), CEO von Megvii Technology, einem der größten KI-Unternehmen Chinas. Zudem führen die US-Sanktionen zu einem Mangel an leistungsstarken Chips, die für das Trainieren von fortgeschrittenen KI-Anwendungen erforderlich sind. Im März 2023 verabschiedete die Regierung ein neues Förderprogramm, um die Führerschaft im Bereich KI-Forschung und Entwicklung in den kommenden Jahren sicherzustellen.
Chinas Zukunft
Netizens sind skeptisch über Gleichstellung unehelicher Kinder
Ende Januar 2023 verkündete die Gesundheitsbehörde der Provinz Sichuan eine neue Regelung rund um die Familiengründung. Paare müssen für eine offizielle Geburtenregistrierung ihres Nachwuchses nun keinen Trauschein mehr vorlegen. Auch wird nicht mehr nach der Anzahl vorheriger Kinder unterschieden, wodurch die Beschränkung der erlaubten Kinderzahl in der Provinz implizit aufgehoben wurde.
Die neue Regelung2 trat am 15. Februar in Kraft und ist zunächst für fünf Jahre gültig. Sie ist Teil eines grundlegenden Kurswechsels, den die chinesische Regierung seit 2013 angesichts einer rapide alternden Bevölkerung eingeleitet hat. Denn auch die 2021 eingeführte „Drei-Kind-Politik“ hat den Rückgang der Geburtenrate nicht umkehren können.
Im Jahr 2022 ist die chinesische Bevölkerung laut offiziellen Statistiken erstmals geschrumpft. Auch andere Provinzen wie Guangdong oder Anhui arbeiten an solchen Lockerungen der ehemals strikten Geburtenplanungspolitik, die chinesische Paare seit den 1980er Jahren lange auf ein Kind beschränkte und stark in die Selbstbestimmungsrechte von Frauen eingriff.
Die neue Politik in Sichuan traf einen Nerv; Chinas Netzbürger:innen diskutierten diese kontrovers. Kinder oberhalb der erlaubten Quote und vor allem außerehelicher Nachwuchs erfahren in China seit langem starke Diskriminierung. Die Familien haben beispielsweise keinen Anspruch auf kostenlosen Schulbesuch, staatliche Übernahme medizinischer Versorgung, bezahlten Urlaub und Mutterschutz, auch die Rechte auf Unterhalt und Erbschaft von beiden Elternteilen sind eingeschränkt.
Expert:innen wie die renommierte Anwältin für den Schutz lediger Mütter Zhang Jing (张荆), die sich mit Demographie beschäftigt, sehen die Gesetzesänderung „insbesondere für Frauen [als] eine sehr gute Nachricht“. Die Gesundheitsbehörde Sichuans bemühte sich ebenfalls, klarzustellen, dass die neue Regel keine unehelichen Geburten fördere, sondern lediglich die Rechte derjenigen sichere, die unverheiratet ein Kind bekämen. Auch geht es in diesem Schritt um die Geburtenregistrierung, nicht um die Gleichstellung bei der Haushaltsregistrierung, von der viele staatliche Leistungen abhängen.
Die Geburtenerlaubnis ist ein System zur Regulierung von Geburten in China. Ehepaare müssen vor der Geburt ihres Kindes bei der örtlichen Familienplanungsbehörde eine Genehmigung einholen, um ihr Kind offiziell registrieren zu lassen und Sozialleistungen zu erhalten. Die Beantragung war bis vor kurzem nur mit einer Heiratsurkunde möglich und an den registrierten Wohnort (hukou) der Eltern gebunden. Die Geburtenerlaubnis geht auf Chinas Familienplanungspolitik der 1980er Jahre zurück. Aufgrund hoher bürokratischer Hürden und sinkender Geburtenraten geriet die Politik in den vergangenen Jahren in die Kritik, und die Prozesse werden seit 2016 schrittweise vereinfacht.
Das Haushaltsregistrierungssystem (hukou) ist ein Instrument der chinesischen Regierung zur Steuerung der Stadt-Land-Migration innerhalb Chinas. Sozialleistungen, weiterführende Schulbildung und Gesundheitsvorsorge werden damit zugänglich, aber auch an den offiziellen Wohnort geknüpft, um Binnenmigration einzuschränken. Nur mit der Geburtenerlaubnis konnte in der Vergangenheit auch eine Haushaltsregistrierung für den Nachwuchs beantragt werden.
Das System wurde in den 1950er Jahren eingeführt und differenzierte zwischen Stadt- und Landbewohner:innen. Seit den Marktreformen der 1980er Jahre wurde das System schrittweise reformiert. 2014 wurden Unterschiede zwischen Stadt und Land angeglichen und ein grundlegender Zugang zu Sozialleistungen für Migrant:innen geschaffen. Doch die Ungleichbehandlung von unerlaubt geborenen und vor allem außerehelichen Kindern bleibt vorerst bestehen.
1979: Einführung der „Ein-Kind-Politik“ (一孩政策) oder auch „staatliche Geburtenplanung“ (计划生育): Verheiratete Paare können ein „Geburtenplanungszertifikat“ (计划生育证明) für ein Kind beantragen. Für Minderheiten und Bauern, deren erstgeborenes Kind eine Tochter ist, gelten gelockerte Regeln, um die Chance auf männlichen Nachwuchs zu geben.
2002: Das „Gesetz zur Bevölkerungs- und Geburtenplanung“ (中华人民共和国人口与计划生育法) legt unter anderem fest, dass „Bürger das Recht haben, Kinder zu bekommen und die gesetzliche Pflicht, die Geburt zu planen“. Verstöße werden mit hohen Geldstrafen geahndet.
2013: Lockerung der Ein-Kind-Politik: Ist ein Ehepartner Einzelkind, kann das Paar zwei Kinder bekommen. Die darüber hinausgehenden Lockerungen für Bürger:innen in ländlichen Regionen und Minderheiten bestehen fort.
29.10.2015: Ende der Ein-Kind-Politik und Einführung der Zwei-Kind-Politik.
31.05.2021: Einführung der Drei-Kind-Politik für die gesamte Bevölkerung.
Sorgen um moralischen Werteverfall und finanzielle Belastung
Eine Analyse von 304 viel geteilten und kommentierten Beiträgen3 zu dem Hashtag „Provinz Sichuan schafft Ehepaar-Geburtenregistrierung ab“ (#四川省取消结婚生育登记) auf der Plattform Weibo zeigt: Auch wenn es bisher nur ein lokales Experiment ist, die große Mehrheit der männlichen und auch weiblichen Nutzer:innen lehnt die Lockerung der Geburtenpolitik für Unverheiratete ab. Die Nutzer:innen halten diese vor allem für einen Ausdruck moralischen Verfalls, den sie insbesondere auf den Untergang der „Institution Ehe“ zurückführen.
Gleichstellung kann die Position von Verheirateten schwächen
Viele männliche als auch weibliche chinesische Internetnutzer:innen scheinen sich einig zu sein, dass die neue Regelung gegen die gesellschaftliche Moral und das traditionelle Familienbild in China verstoße. Ein Kommentar dazu hat sogar die meisten Likes (1109) innerhalb des Datensatzes erhalten:
„[Laut Behörden ist die Regelung] ‚kein Anreiz, Kinder zu zeugen, ohne zu heiraten‘. Doch auch wenn diese Maßnahme nicht darauf abzielt, würde sie unweigerlich zu einer Zunahme dieses Phänomens führen, das würde alles durcheinanderbringen.“
“并非鼓励不结婚生子”,即使此政策的出发点不是这样,但势必会导致这种现象的增加,真的乱了套了!
乔鲁诺乔banana_ / Nutzer qiaolunuoqiao banana_, 30.01.2023) (Post mit den meisten Likes (1109))
„Man sollte die Kosten für die Bildung von Kindern, nicht die moralischen Maßstäbe heruntersetzen.“
开放生育应该降低育儿成本,而不是降低道德标准。
--琦琦-- / Nutzerin --qiqi--, 07.03.2023
Insbesondere Frauen legen offenbar mehr Wert auf eine gesetzlich geschützte Ehe und Familie als Männer. Das mag auch auf den gesellschaftlichen Druck und die Stigmatisierung zurückzuführen sein, die durch patriarchale Strukturen vor allem auf Frauen lasten.
„Die chaotischen Maßnahmen werden dazu führen, dass noch mehr Leute nicht mehr heiraten wollen. Die Geburtenrate würde natürlicherweise weiter sinken. Wenn die Ehe nicht mehr geschützt ist, warum sollte man dann überhaupt noch heiraten? [...]“
乱七八糟的政策导致更多人不想结婚,生育率自然下降,婚姻都受不到保障,还结个p
迷小鹿N / Nutzerin, miniluN, 01.02.2023
„Das ist unfair für uns als verheiratete Frauen, vor allem für die Vollzeitmütter. Was sollen wir tun, wenn unsere Ehemänner aus einer Affäre Kinder bekommen?“
这是对我们已婚妇女的不公,尤其是我们这种全职妈妈,要是男的在外出轨生小孩,我们怎么办呢?
应该取个什么微博名才好 / Nutzerin yianggaiqugeshenmeweibomingcaihao, 05.02.2023
Neuregelung begünstigt Reiche und dient staatlichen Interessen
Im Vergleich zu weiblichen Kommentatorinnen kritisieren männliche Nutzer vor allem ein mit der Regelung verbundenes staatliches Interesse:
„Der Überlebenswille des Landes ist sehr stark!“ [A.d.R.: Dies ist ein Wortspiel, 求生欲 kann auch verstanden werden als „Der Staat will, dass die Bürger:innen mehr Kinder gebären“.]
现在国家的求生欲很强啊
邕人之不好先生 / Nutzer yongrenzhibuhaoxiansheng, 05.02.2023
„Erstmal ein politischer Versuch, damit die Bürger:innen sich an neue Maßnahmen gewöhnen. Sollte der Effekt zu stark sein, würde diese Maßnahme wieder aufgehoben werden. Ist das nicht immer die gleiche Routine? Es ist kein Wunder, dass die Leute sagen, wir hätten keine Menschenrechte, wenn es so abläuft.“
先吹个风,然后适应一段时间,反映过大就取消,这不是一直以来的套路吗~崩坏成这样也难怪别人说我们没人权
咖啡猫-_- / Nutzer kafeimao-_-, 31.01.2023
Wiederholt wird argumentiert, dass die Neuregelung vor allem Kader und wohlhabendere Schichten begünstige:
„[Diese Maßnahme] ermöglicht nur den Reichen und Beamten rechtmäßig mehr Kinder zu bekommen.“
让有钱人当官的合理合法多生
余三少 / Nutzer yusanshao, 30.01.2023
„[Diese Maßnahme] begünstigt nur korrupte Behörden und reiche Geschäftsmänner. Die Armen können es sich nicht leisten, Kinder zu kriegen. Gesetz und System sind in der Tat die Erpressungsmittel des Kapitalismus.“
福利了贪官,福利了有钱富商。穷的还是生不起。法律和制度的确是资本主义的剥削手段。
庄肖律师南京益邦所 / Anwalt Zhuangxiao nanjingbangsui, 05.02.2023
Öffentliche Debatte zeigt: Chinas Führung kann Familienmodelle und individuelle Geburtenplanung nicht ohne weiteres ändern
Während staatliche Stellen und Expert:innen eher die neu gewonnenen Gleichstellungsaspekte der Regelung betonen, äußern sich Bürger:innen auf einer von Chinas größten sozialen Medienplattformen vorwiegend skeptisch. Sie sehen eine Ermutigung außerehelicher Beziehungen und einen potentiellen moralischen Werteverfall, da man sich über rechtliche Nachtteile für ein aus einer Affäre entstandenes Kind keine Sorgen mehr machen müsse.
Hier wird deutlich, dass tradierte Familienmodelle und -ideale nicht leicht aufzubrechen sind und eine gesetzliche Lockerung die bestehenden gesellschaftlichen Stigmata nicht einfach auflösen kann. Die ablehnenden Kommentare von Netzbürger:innen, die die „Institution Ehe“ in Gefahr sehen, zeigen, dass traditionelle und patriarchale Familienstrukturen nach wie vor fest in der chinesischen Gesellschaft verankert sind. Bis unverheiratete und alleinerziehende Mütter voll akzeptiert werden wird es wohl noch ein langer Weg sein.
Internetnutzer:innen verweisen allerdings auch mit scharfem Ton auf die staatliche Motivation und Interessen hinter der Neuerung. So ginge es der Regierung weniger um den Schutz von Kindern, sie hoffe vielmehr auf eine steigende Geburtenrate. Zudem käme die Lockerung vor allem Reichen und Beamten zu Gute. Auch sozialpolitische Herausforderungen verhindern somit die gewünschte Steigerung der Geburtenrate. Laut einer staatlichen Umfrage von 2017 nennen die Befragten an erster Stelle die hohen Kosten4 als Gründe für die Entscheidung gegen eine größere Familie. Auch fehlende Unterstützung in der Kinderbetreuung wird genannt. Netizens bemängeln, dass die staatliche Förderung für junge Familien trotz neuer Elternzeit- und Elterngeldregelungen immer noch nicht ausreicht.
Angesichts des erstmaligen Bevölkerungsrückgangs Chinas im Jahr 2022 gibt die demografische Entwicklung dem Staat weiter Anlass, mit neuen Maßnahmen und Lockerungen zu experimentieren. War es beispielsweise bis dato gesellschaftlich verpönt, bereits im Studium Kinder zu bekommen, wurde nun während der Jahressitzung des Nationalen Volkskongresses vorgeschlagen, dass Master-Studierende oder Promovierende an den Universitäten bessere Unterstützung und finanzielle Anreize für die Betreuung des Nachwuchses erhalten sollen. In den kommenden Jahren sind noch weitere Schritte zu erwarten, die mit etablierten Regeln brechen – und vermutlich neue Debatten auslösen werden.
Weiterführende Informationen:
- „Round Table China” – „Sichuan ends restrictions on marital status for birth registration”- Apple 播客
- China: Geboren ohne Recht auf Leben | ARTE Reportage
- China, Needing Babies, Eases Limits on Births - The New York Times
- Endnoten
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1 | Mit dem Schlüsselwort „ChatGPT“ wurden auf Weibo Ergebnisse gesucht. Die erhaltenen Ergebnisse wurden nach „Hot-Weibo“ gefiltert. Die gewonnenen Daten stammen vom 9. Dezember 2022 bis zum 13. März 2023.
2 | Es handelt sich um die „Maßnahmen für die Verwaltung der Geburtenregistrierungsdienste in der Provinz Sichuan“ (四川省生育登记服务管理办法).
3 | Mit dem Schlüsselwort „#四川省取消结婚生育登记)“ wurden auf Weibo Beiträge gesucht. Der Weibo-Beitrag mit dem meisten Kommentaren (304) wurde für die Auswertung gewählt. Berücksichtigt wurden dabei sowohl Geschlecht als auch Haltung zum Thema (Pro und Contra) und angegebene Gründe, wobei längere Beiträge ggf. auch mehreren Kategorien zugeordnet wurden.
4 | Die Durchschnittskosten einer chinesischen Familie für die Erziehung eines Kindes im Alter von 0 bis 17 Jahren belaufen sich auf 485.000 Yuan (ca. 63.800 €), die für die Unterstützung bis zum Hochschulabschluss 627.000 Yuan (ca. 82.400 €).