Debatten über Ernährungssicherheit, Sprachcodes im Internet und Klima-Aktivistin Liu Junyan
Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.
Auf einen Blick
Trotz aller Spannungen mit der Volksrepublik ist die Bundesregierung weiterhin bemüht, Anknüpfungspunkte für Kooperationen zu identifizieren – sei es auf den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen am 20. Juni oder im Rahmen der am 13. Juli veröffentlichten China-Strategie. Interessanterweise werden die als potenzielle Kooperationsfelder identifizierten Themen Ernährungssicherheit und Auswirkungen des Klimawandels aktuell auch lebhaft von Chinas Netizens diskutiert.
Die Rahmenbedingungen solcher Debatten sind allerdings sehr verschieden – Klimaaktivist:innen wie die „Letzte Generation“ oder kontroverse öffentliche Diskussionen um die Rolle von Gentechnik in der Landwirtschaft gibt es in China nicht. Doch auch in der Volksrepublik engagieren sich trotz schwieriger Bedingungen Menschen wie die von uns in der Rubrik „Chinas Rolle in der Welt“ porträtierte Umweltaktivistin Liu Junyan. Sie versucht, Lösungen „von oben“ mit Ansätzen „von unten“ zu verbinden.
Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat auch chinesischen Bürger:innen vor Augen geführt, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht per se sicher ist – unser Thema in der Rubrik „Chinas Zukunftsperspektiven“. Ein kreativer Sprachgebrauch auch in Anbetracht von Zensur spielt bei allen Debatten im Internet eine Rolle – dazu mehr im Kapitel „Chinas digitale Transformation“.
CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN
Ernährungssicherheit: Keine Krisenstimmung bei Chinas Netizens
Ernährungssicherheit ist seit dem Frühsommer regelmäßig Titelthema der parteistaatlichen Medien gewesen: Extreme Wetterbedingungen, geopolitische Spannungen rund um den Ukraine-Krieg und Zweckentfremdung von Anbauflächen setzen Chinas Führung unter Druck. Chinesische Video-Plattform-Nutzer:innen sehen die Lage erstaunlich gelassen.
CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION
Zensur im Internet: Diskussionen um offizielle Kritik an Sprachcodes
Die China Cyberspace Verwaltung (CAC) hat Internetnutzer:innen wiederholt ermahnt, „Gerüchte“ anzuzeigen und online „positive Energie“ zu verbreiten. Die Netizens nutzten zuletzt vermehrt Abkürzungen von chinesischen Wörtern, oft die Anfangsbuchstaben der lateinischen Umschrift als eine Art Geheimcode. Solche Abkürzungen fordern die Zensor:innen heraus, da sie kaum durch automatisierte Filter zu erkennen sind.
CHINAS ROLLE IN DER WELT
Liu Junyan: Verfechterin von mehr zivilem Engagement in Zeiten des Klimawandels
China leidet stark unter den Auswirkungen des Klimawandels. Verschiedene Extremwetter-Ereignisse wie Rekordtemperaturen, Dürren und Überflutungen machten dem Land in den vergangenen Monaten zu schaffen. Liu Junyan, Projektleiterin für Klimarisiken bei Greenpeace, verbindet deutliche Forderungen an Staat und Gesellschaft mit Lob für die erreichten Ziele.
CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN
Ernährungssicherheit: Keine Krisenstimmung bei Chinas Netizens
Was ist passiert?
Ernährungssicherheit ist seit dem Frühsommer regelmäßig Titelthema in den parteistaatlichen Medien gewesen. Dies ist nicht verwunderlich: Extreme Wetterbedingungen wie Hitze und Überschwemmungen (u.a. in der wichtigen Getreideanbau-Provinz Henan) haben China in diesem Jahr ungewöhnlich früh heimgesucht.
Auch geopolitische Spannungen, Umwandlung von Agrarland in Waldgebiete zum Klimaschutz oder die Erschließung von Bauland als Einnahmequelle für die chronisch überschuldeten lokalen Regierungen tragen ebenfalls zur Nahrungsmittelknappheit bei. Parteistaatliche Medien betonten dennoch in ihren Berichten, dass China trotz einer seit fünf Jahren erstmals gesunkenen Sommerernte nicht in einer Nahrungsmittelkrise steckt.1
Ernährungssicherheit ist eine Top-Priorität der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das „Erste Dokument des Zentralkomitees [der Kommunistischen Partei Chinas]“ (中央一号文件) des Jahres, welches sich traditionell immer den Themen Landwirtschaft und Agrarpolitik widmet, stellte die Sicherstellung der Versorgung in den Fokus. So sollen zum Beispiel bereits angelaufene administrative Maßnahmen zur Rückumwandlung von Landflächen für den Getreideanbau durch das aktuell im Erstentwurf vorliegende „Gesetz zur Ernährungssicherheit“ (粮食安全保障法草案) zentralstaatlichen Rückenwind erhalten.
Die Volksrepublik China hat sich zudem das Ziel gesetzt, eine „landwirtschaftliche Supermacht“ (农业强国) zu werden. Dies hat auch Konsequenzen für andere Länder: Als weltweit größter Exporteur von Phosphatdünger drosselt die chinesische Regierung bereits seit September 2021 die Ausfuhren ins Ausland, was weltweit zu Preisanstiegen führte. Beijing importiert vermehrt Getreide aus anderen Ländern – allein die Importe aus Russland stiegen 2022 um 40 Prozent auf 7 Mrd. US-Dollar, während Moskau seine Ausfuhren in andere Länder schon vor Kriegsbeginn stark beschränkte. Für uns ist dies ein wichtiger Anlass zu fragen, wie das Thema Ernährungssicherheit in China im Internet diskutiert wird.
Für diese Analyse haben wir unter dem Suchwort „Ernährungssicherheit in China“ (中国粮食安全) im Zeitraum von 2020 bis 2023 auf den drei Videoplattformen Kuaishou, Douyin und Bilibili die ersten 30 algorithmisch angezeigten Videos ausgewertet.
Was sagen Chinas Netzbürger:innen?
Video-Plattformen in China
Kuaishou (快手)
Gegründet: 2011, Monthly Active Users (MAU): 480 Mio.
Kuaishou (快手, wörtlich „schnelle Hand“) ist derzeit die zweitgrößte Kurzvideo-Plattform in China. Mit ihrem Slogan „Umarmung jeglichen Lebens“ findet sie enorme Resonanz, weil sie auch wenig gebildeten Menschen eine Plattform bietet. Im Vergleich zu Bilibili und Douyin sind die Nutzer:innen von Kuaishou etwas älter (über 25 Jahre) und wohnen eher in kleineren Städten (meist zwischen 1-5 Mio. Einwohnern) oder in ländlichen Gebieten. Kuaishou wurde ebenso wie Douyin vom parteistaatlichen TV-Sender CCTV für Berichterstattung über Großereignisse wie der Gala zum chinesischen Neujahrsfest als Medienpartner rekrutiert.
Douyin(抖音)
Gegründet: 2012, Monthly Active Users (MAU): 759 Mio.
Douyin (Name der in China entwickelten App, die als Tiktok auf den internationalen Markt kam) gilt als neu, hip und musikalisch, weshalb viele in China bekannte Stars und Live-Streamer:innen die Plattform nutzen. Die Algorithmen der Firma Bytedance gelten als sehr gut: angezeigte Inhalte werden auf die Vorlieben der Nutzer:innen hin optimiert, um eine hohe Kundenbindung zu erzielen. Auch offizielle Parteimedien nutzen die Plattform, um ihre Erzählweisen dort zu platzieren.
Bilibili (auch B站/ B Station)
Gegründet: 2009, Monthly Active Users (MAU): 326 Mio.
Nach Einschätzung von Bilibili-CEO Chen Rui sind die Hauptnutzer der Video-Plattform Millennials und Angehörige der „Generation Z“ (geboren ab ca. 1990). Diese Altersgruppen sind seiner Ansicht nach geprägt durch „kulturelles Selbstvertrauen, moralische Selbstdisziplin und eine gute Bildung.“ Der Reiz von Bilibili liegt u.a. darin, dass Nutzer:innnen beim Anschauen eines Videos die Kommentare anderer beim ersten Streaming sehen können. Diese fliegen wie Kugeln ins Bild und werden deshalb Bullet-Kommentare (弹幕) genannt.
Die meisten Kommentare auf den Video-Plattformen sehen keine Anzeichen einer Nahrungsmittelkrise – was durchaus mitunter wie eine Art Selbstberuhigung klingt:
„Es gibt kein großes Problem mit der Ernährungssicherheit in unserem Land, aber das nur gerade so. Internationale und westliche feindliche Kräfte versuchen ständig, uns zu vernichten. Unser Land hat ein strenges Auge auf die strategische Lebensmittelversorgung. Aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts herrscht in mehr als 20 Ländern Nahrungsmittelknappheit, aber China hat kein großes Problem.“
我国粮食安全没有大的问题,但仅是大体平衡。国际势力想要时刻搞破坏. 西方敌对势力时刻想要搞垮我们。国家对粮食战略安全抓的很紧。所以,俄乌冲突造成20几个国家缺粮,但是中国没有太大问题。
Douyin-Video mit dem Titel „Ernährungssicherheit: Ein Krieg, den wir uns nicht leisten können, zu verlieren […] @Zhu Shao Ping redet über Wirtschaft“, 15.03.2023.
Ein anderer Nutzer postet:
„Hortet China Lebensmittel auf den internationalen Märkten? Antwort des Außenministeriums (Wang Wenbin): ‚Kein Bedarf! Die chinesische Regierung ist absolut in der Lage, das chinesische Volk zu ernähren und muss kein Getreide auf dem internationalen Markt kaufen.‘”
中国在国际市场囤积粮食外交部(汪文斌)回应:“没走必要,中国政府完全有能力养活中国人民,没有必要去国际上买粮食。”
Kuaishou-Video mit dem Titel „Ernährungssicherheit #Bitte glauben Sie an die Stärke des Vaterlandes,“ 2022.
Stimmen, die doch von einer existenziellen Krise ausgehen, führen unterschiedliche Gründe an.
Interne Gründe: Regierungsversagen und Politikprioritäten
„Chinas Nahrungsmittelproblem liegt in der organisierten Verantwortungslosigkeit. Ernährungssicherheit ist nicht nur eine Frage der Menge, sondern auch eine der Qualität.”
中国的粮食问题是有组织的不负责任,粮食安全不是数量上的不够,还需关注质量安全。
Bilibili-Video mit dem Titel „Wen Tiejun: Es ist zu schrecklich, dass niemand für die Ernährungssicherheit verantwortlich ist“, 08.04.2023.
Korruption wird deutlich angesprochen:
„Getreide sind nicht sicher, weil die Nahrungsmittel-Korruption die nationale Ernährungssicherheit gefährdet.“
粮食不安全,因为粮食腐败危害国家粮食安全。
Douyin-Video mit dem Titel „Vorschlag des Delegierten: Getreidespeicher (Nahrungsmittelreserven) genau im Auge behalten, um Ernährungssicherheit zu gewährleisten“, 03.07.2023.
Eine Verkettung von Gründen sieht ein anderer Nutzer:
„China hat inhärente strukturelle Probleme wie Umwandlung von Ackerland in Wälder, der Abwanderung und der Überalterung der Landbevölkerung sowie das Brachliegen von Ackerland. Langfristig gesehen bleibt die Situation angespannt und der Kampf um die Verteidigung der Nahrungsmittelversorgung wird noch lange andauern.“
[ ] 中国固有的结构性问题,退耕还林,人口流失,老龄化,耕地荒废。所以从长远看,
形式严峻,粮食保卫战任重道远。
Kuaishou-Video mit dem Titel „Festhalten an Chinas Reisschüssel und Bewachen der Getreidespeicher des Landes. Warum konnten die internationalen Getreidehändler alles niederschlagen, aber nicht China?”, Mai 2023.
Externe Gründe: Angebliche US-Verschwörung und Russlands Krieg in der Ukraine
„Die zahlreichen minderwertigen Menschen in den Entwicklungsländern hindern die USA daran, ausreichend hochwertige und günstige Rohstoffe zu erhalten. Wie können sie im Namen der Gerechtigkeit ehrenvoll und ohne Spuren und offen beseitigt werden? Die Amerikaner haben eine gute Methode gefunden: Sie lassen ihnen nichts zu essen.“ [Anmerkung der Redaktion: Dies ist eine originalgetreue Übersetzung. Der Autor bezieht sich auf ein angebliches US-Geheimdokument.]
发展中国家数量众多的劣种人,将妨碍美国获得优质充足廉价的原材料,如何正大光明而不留痕迹的清除他们呢,美国人想到了一个好方法,让他们没有粮食吃。
Bilibili-Video mit dem Titel „Der Tod von Getreide und Öl: Die vier großen Getreidehändler leeren China, der 100-jährige Krieg um Getreide und Öl hat nie aufgehört!“, 27.05.2023.
Auch in China schauen Nutzer:innen mit Sorge auf den Krieg in der Ukraine:
„Die Sanktionen der westlichen Länder gegen Russland und Russlands Gegenmaßnahmen verwandeln den Russland-Ukraine-Konflikt in ein globales politisches Spiel, was eine enorme Unsicherheit und Bedrohung für die Ernährungssicherheit darstellt.“
西方国家对俄罗斯的制裁和俄罗斯的反制裁正在让俄乌战争成为一场全球的政治博弈,给粮食安全带来了巨大的不确定性和威胁。
Bilibili-Video mit dem Titel „Wie wirkt sich die Verschlechterung der Lage in Russland und der Ukraine auf die Ernährungssicherheit in China aus? Kann China eine neue Lebensmittelkrise vermeiden?“, 25.01.2023.
Was bedeutet das?
Viele der Stimmen, die eine Krise der Ernährungssicherheit zurückweisen, zitieren direkt die offizielle Rhetorik oder imitieren diese. In vielen dieser Videos tauchen auch Aussagen wie „absolut sichere Ernährungsversorgung” oder „wir haben genügend Lebensmittelreserven“ auf – nicht selten ohne eine weitere Begründung.
Alle Plattformen sind in unterschiedlichem Maße von parteistaatlichen Konten und ihren Erzählweisen durchdrungen bzw. wiederholen diese. Die im kollektiven Gedächtnis noch immer verwurzelte Erinnerung an Hungersnöte spielt dabei auch in der jüngeren chinesischen Geschichte eine Rolle: Gedanken an eine handfeste Nahrungsmittelkrise werden deshalb möglicherweise verdrängt.
Die chinesische Regierung weiß um die Wichtigkeit der Ernährungssicherheit. Sie ist essenziell für die soziale Stabilität und damit die eigene Legitimität. Noch scheint die Stimmungslage entspannt zu sein. Aber die strukturellen Probleme bleiben. Die KPC wird nicht nur konkrete Maßnahmen zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung beschließen, sondern auch die Stimmung und Positionierungen in Online-Foren genau beobachten und weiter „positive Energie“ verbreiten. Staatsmedien und parteinahe Influencer dürften an ihrem Erzählweise festhalten, dass im Fall einer Verschlechterung der Lage nur die Regierung in Beijing das Überleben der eigenen Bevölkerung sichern könne.
CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION
Zensur im Internet: Diskussionen um offizielle Kritik an Sprachcodes
Was ist passiert?
In einem Anfang Mai vom Meldezentrum für gesetzeswidrige und unangemessene Inhalte der China Cyberspace Administration (CAC) preisgekrönten und auf deren Webseite veröffentlichten Musikvideo zeigt ein maskierter Anonymous-Vertreter, wie er das Internet als Plattform für politischen Aktivismus nutzt. Er rappt: „Mein Bildschirm, er ist meine Maske, die Tastatur meine Waffe. Ich kommentiere Politik, das ist meine Aufgabe, genieße es in der digitalen Welt, das ist meine Ekstase.“ Das wird in dem Video von einem Polizisten hinter dem Bildschirm genau beobachtet. Eine Stimme aus dem Off erinnert daran, dass das Internet kein Freiraum für unterschiedliche Meinungen sei.
Dieses Video ist Teil der jüngsten Kampagne der chinesischen Regierung, Inhalte im Internet zu regulieren. Die Regierung ermutigt die Bürger wieder verstärkt, „Gerüchte“ zu melden, dabei „positive Energie“ auszustrahlen und einen „sauberen Raum“ zu schaffen.
Jedoch finden Internetnutzer immer wieder kreative Wege, um ihre Meinungen auszudrücken. Abkürzungen auf Basis der lateinischen Umschrift für chinesische Schriftzeichen, Pinyin, sind sehr beliebt. Ein Beispiel ist „gg“ für „gege“ (哥哥, älterer Bruder), was im Internetslang für „bro“ steht.
Parteistaatliche Medien kritisieren, die Abkürzungen würden die chinesische Sprache „verarmen lassen und verschmutzen“.
Die Sprachkritik ist auch Thema auf der Frage-und-Antwort-Plattform Zhihu. Mehr als 3000 Reaktionen gingen zum Beispiel im Frühjahr auf die Frage ein: „Medien kritisieren Internetbegriffe wie ‚yyds‘ und ‚juéjuézi (绝绝子)‘ [Anm.: ‚toll, wunderbar‘] beklagen, dass die Menschen ohne diese ‚Begriffe‘ nicht mehr sprechen können – beeinflusst die Internet-Sprache tatsächlich unsere Ausdrucksfähigkeit?“
Was sagen Chinas Netizens dazu?
Die Kommentare auf Zhihu lehnen die offizielle Kritik überwiegend ab.2 Ihre Argumente: die Verwendung von Abkürzungen gehört zur Ausdrucksfreiheit im Internet und ist ein Selbstschutz gegen die Zensur. Andere unterstützen die offizielle Kritik: Abkürzungen erschwerten das Lesen und verwässerten die chinesische Sprache.
Im Folgenden haben wir exemplarisch Stimmen aus den vier meisterwähnten Kategorien beider Lager ausgewählt.
Die Nutzung von Abkürzungen im Internet schmälert nicht zwangsläufig die alltägliche Ausdrucksfähigkeit:
„Wenn man heute in einer privaten Situation einfach nur Blumenshorts und Flip-Flops trägt, wird man dann etwa morgen keine ordentliche Kleidung mehr tragen? Wird man zu einem Vorstellungsgespräch, einer Hochzeit oder einem Meeting keinen Anzug tragen?“
好比说今天私下场合随便穿个花裤衩、人字拖,明天就不会好好穿衣服了?面试、结婚、开会就不会穿西装了?
Prächtige Zither (锦瑟阑珊), 02.03.2023, 45.499 Likes
Kritik an Internetsprache verdeutlicht Entfremdung zwischen kulturellen Eliten und Volk:
„Die [elitären] ‚Vollzeit-Kulturschaffenden‘ sind sehr sensibel gegenüber einem [ihrem] Monopol auf kulturelle Ressourcen, denn dies ist ihre Lebensgrundlage. Populäre Abkürzungen sind kulturelle Ressourcen, die sich spontan in der Gesellschaft bilden. […] Daher werden sie natürlich von diesen [elitären] ‚Vollzeit-Kulturschaffenden‘ auf den von ihnen kontrollierten Kanälen angegriffen und unterdrückt.“
脱产文人阶层对于文化资源的垄断权是非常敏感的,因为对文化资源的垄断是他们安身立命的本钱,民间的梗实际上是社会自发形成的文化资源 […]自然会被脱产文人阶层凭借其掌控的发声渠道进行抨击和打压。
Die Krone des Tokamak (托卡马克之冠), 02.02.2023, 5882 Likes
Abkürzungen sind eine Reaktion auf Zensur:
„Löschen Sie [Zensurbehörde] doch nicht...“
有本事别删。
Nicht harmonisieren lassen (不要被和谐), 03.12.2022, 7831 Likes
Die Aussage kritisiert die Zensurbehörde dafür, sich als moralisch überlegen darzustellen, wenn sie die Verwendung von Abkürzungen aus Gründen der Ausdrucksfähigkeit kritisiert, während sie aus Sicht des Nutzers den freien Ausdruck im Internet selbst einschränken will.
Abkürzung durch lateinische Umschrift erschwert das Verständnis von Sprache:
„Bei erfundenen Ausdrücken [in chinesischen Schriftzeichen] kann man noch den Sinn durch den Kontext erschließen, bei Buchstabenkombinationen sieht man jedoch vor lauter Nebel nicht mehr durch. ‚Yygq‘ kann noch als ‚yin yang guai qi‘ (阴阳怪气 merkwürdig und unheimlich) entschlüsselt werden, aber bei ‚yjgj‘ [Anmerkung der Redaktion: 有句港句/有句讲句 Satz für Satz sprechen; die ganze Wahrheit sagen] bleibt man völlig im Dunkeln.“
异化的词汇尚可望文生义,字母组合则恍如天书,yygq还能拼出阴阳怪气,yjgj则雾水满头。
Moderne Mittelschicht (摩登中产), 12.12.2022, 2235 Likes
Was bedeutet das?
Die Kontrolle über die Sprache und was gesagt oder nicht gesagt werden darf, ist ein zentrales Merkmal der Herrschaft der KPC. Chinas Netzbürger:innen wollen durch kreatives Nutzen der Abkürzungen diese staatliche Kontrolle aushebeln und herausfordern. Anderen geht es aber durchaus auch um die Sprachästhetik und die Verständlichkeit des Chinesischen.
Aus Sicht des chinesischen Parteistaats sind solche Abkürzungen besonders herausfordernd, da sie im Vorfeld kaum präventiv durch automatisierte Zensurfilter zu erkennen sind, sondern durch menschliche Zensor:innen entdeckt und entschlüsselt werden müssen. Dies dauert in der Regel länger, so dass sich „kritische Inhalte“ einige Zeit ungestört im Internet verbreiten können.
Zudem bedienen sich die Abkürzungen der lateinischen Umschrift und nicht der chinesischen Schriftzeichen, die die KPC als „chinesisches Kulturgut“ definiert hat. Nicht einmal Mao Zedong konnte sich Ende der 1950er Jahre mit deren Abschaffung durchsetzen.
Die chinesische Sprache ist aus Sicht Beijings auch ein wichtiger Träger von Chinas Softpower. Im Rahmen der „Globalen Zivilisationsinitiative“, die Partei- und Staatschef Xi Jinping Mitte März verkündete, möchte die chinesische Regierung Chinesisch noch mehr im Ausland verbreiten. Parteistaatliche Kulturangebote legen bereits jetzt großen Wert auf Kalligrafie. Schönschreibübungen von lateinischen Buchstaben dürften kaum im Sinne der KPC sein.
CHINAS ROLLE IN DER WELT
Liu Junyan: Verfechterin von mehr zivilem Engagement in Zeiten des Klimawandels
China ist stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Auch in diesem Jahr ist das Land einer Reihe von Extremwetterereignissen wie Rekordtemperaturen, Dürren und Überflutungen ausgesetzt. Die Desertifikation in Nordchina schreitet trotz vielfältiger Maßnahmen fort. Energie- und Ernteausfälle verursachen hohe wirtschaftliche Kosten. Chinas Führung hat daher in der letzten Dekade den Umwelt- und Klimaschutz, aber vor allem auch die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels, weit oben auf ihre nationale und internationale Agenda gesetzt.
Zu Beginn von Xi Jinpings Machtübernahme Ende 2012 wurde das Ziel einer „ökologischen Zivilisation“ (生态文明) in die Satzung der KPC aufgenommen, ökologische Ziele finden sich seitdem auch in den Fünf-Jahres-Entwicklungsplänen wieder. Im Jahr 2020 verkündete Xi bei der UN-Vollversammlung das „Dual-Carbon“-Ziel (双碳) – bis 2030 sollen Chinas CO2-Emissionen ihren Höchststand erreicht haben und bis 2060 will das Land klimaneutral werden.
Doch auch die chinesische Regierung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen ökologischen und sozialen Auswirkungen des Klimawandels und der anhaltenden Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen für das Wirtschaftswachstum. China hat nach einer rapiden wirtschaftlichen Modernisierung heute den weltweit größten CO2-Ausstoß pro Jahr, obwohl das Land bei verbrauchsbezogenen Pro-Kopf-Emissionen noch deutlich hinter den Volkswirtschaften des globalen Nordens liegt. Die Gesamtemissionen der Volksrepublik, gerechnet seit Beginn der Industrialisierung, machen gerade einmal die Hälfte der Ausstöße der USA aus.
Um ambitionierte Ziele zur Emissionsminderung zu erreichen, setzt die Regierung primär auf zentral gesteuerte Maßnahmen sowie die Förderung und Entwicklung neuer Technologien. China ist mittlerweile weltweit führend in der Solarenergie und Elektromobilität. Doch technischer Fortschritt allein werde nicht ausreichen, mahnen Klimaexperten und Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus dem Umweltbereich an. Letztere haben bislang trotz der scharfen Regulierung noch mehr Freiräume als andere NGOs. Es bedürfe eines breiteren gesellschaftlichen Bewusstseinswandels und Partizipationsmöglichkeiten für die Bevölkerung.
Eine wortgewaltige Vorkämpferin beim Thema Umwelt- und Klimaschutz ist Liu Junyan (刘君言), Projektleiterin für Klimarisiken bei Greenpeace. Die Umweltorganisation ist seit 2002 in China aktiv und hat ihre Mitarbeiterschaft dort in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgebaut.
Bewusstsein für den Klimawandel schaffen und Handeln im Alltag ermöglichen
Liu Junyan wechselte 2017 aus der Forschung zu Greenpeace, um eine Lücke zu schließen zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel und fehlendem Wissen in der Bevölkerung. Liu stellt in ihrer Arbeit technologische, wirtschaftliche und politische Aspekte in den Vordergrund, welche Langzeitfolgen und das globale Ausmaß des Klimawandels verdeutlichen.
In Chinas Bevölkerung ist das Bewusstsein für die bereits bestehenden Auswirkungen noch schwach ausgeprägt. Um dies zu ändern, nutzt Liu verschiedene Kanäle und Formate wie Kurzvideos, Podcasts und Medienbeiträge. Vor allem von lokalen und regionalen chinesischen Medien wird sie regelmäßig als Expertin für Erklärungen zu Extremwettersituationen befragt.
Obwohl sich Liu immer auf wissenschaftliche Erkenntnisse bezieht, kontextualisiert sie diese im Alltag ihres Publikums und macht globale Phänomene greifbar. In einem Ted Talk zeigt sie am Beispiel der Millionenstadt Guangzhou, welche konkreten Auswirkungen die bisherige Erwärmung von 1,1°C durch große wirtschaftliche Schäden aufgrund häufiger Überflutungen hat. Ähnlich erklärt sie mit Blick auf die Flut im Ahrtal in Deutschland 2021, welche desaströsen Auswirkungen städtebauliche Maßnahmen wie Oberflächenversiegelungen auf das Klima haben. Durch ihre konkreten Beispiele stellt Liu auch Zusammenhänge her zu gesellschaftlicher Ungleichheit, Folgen der Urbanisierung und hebt die Bedeutung von nachhaltiger Entwicklung hervor.
Immer wieder ruft Liu Bürger:innen dazu auf, selbst Verantwortung zu übernehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten. Sie schlägt vor, die Schädigung der Umwelt selbst zu dokumentieren, um Aufmerksamkeit zu generieren. Laut Liu liegt die Macht der Bilder darin, dass sie Makrothemen wie den Klimawandel greifbar machen können:
„Alle denken, dass Fotografie und Videografie in der Hand von Profis liegen. Aber angesichts einer Krise wie dem Klimawandel sollte Handlungsmacht dezentralisiert werden.“
大家会觉得摄影、摄像是专业人士的权力,但在气候变化这样的危机面前,我们要把权力下放下去。
Lius Analysen beschreiben den Klimawandel als systemisches Problem, das von unterschiedlichen Akteur:innen angegangen werden sollte – nicht nur vom Staat, sondern auch von Unternehmen und der Bevölkerung:
„Wir können jetzt nicht länger auf lineare Entwicklungsergebnisse warten. Was wir brauchen, ist übergreifende Durchschlagskraft.“
我们现在不能再等待线性的发展结果。我们需要的是跨越式的力量。
Allen Appellen an die Bevölkerung zum Trotz ist Liu aber überzeugt davon, dass es in der Verantwortung der Regierung liege, ein nachhaltiges Entwicklungsmodell zu schaffen, das Rechte und Interessen von Menschen und Umwelt wirksam schützt. So weist Liu zwar sehr deutlich auf Missstände in ihrem Land hin, lobt aber auch politische Lösungen, die helfen, die Belastung für einkommensschwache Gruppen abzufedern: Beispielsweise haben die Provinzen Zhejiang und Anhui begonnen, Ernteversicherungen zum Schutz der Landwirt:innen einzuführen.
Das Thema Umwelt- und Klimaschutz bietet Spielräume für Engagement und Kooperation
Das vergangene Jahrzehnt war geprägt von starken Einschnitten in den Handlungsspielraum chinesischer NGOs und deren Mitarbeitenden. Vor allem die Betätigungsfelder ausländischer Organisationen in China, darunter auch viele Deutsche, wurden durch das Gesetz zur Regulierung ausländischer Nichtregierungsorganisationen von 2016 deutlich eingeschränkt.
Auch in Klimafragen wird der Raum für zivilgesellschaftliches Engagement zunehmend kleiner. In den vergangenen Jahren wurden offener Protest oder künstlerische Formen des Aktivismus – wie Kunstinstallationen, die auf Umweltverschmutzungen hinweisen – immer wieder unterbunden. Zudem ist Zensur in den sozialen Medien ein Thema, so wurden beispielsweise Posts zum einjährigen Gedenken an die Flut 2021 in Henan gelöscht.
In diesem Kontext mag es überraschen, dass Liu Junyan als Klima-Aktivistin in öffentlichen Diskussionen durchaus Spielraum erhält und staatliche Medien ihr eine Plattform bieten. Und das, obwohl Greenpeace eine ausländische NGO ist und mit ihrem Bottom-Up-Ansatz der Einbindung der Bevölkerung im Widerspruch zum zentralstaatlichen, technologiezentrierten Ansatz der chinesischen Regierung steht. Lius ungewöhnlicher Handlungsspielraum hat mehrere Gründe:
- Im Bereich Klima und Umwelt verfolgen Staat und NGOs in China nicht selten eine komplementäre Agenda. Die Betätigung chinesischer Organisationen und Individuen in diesem Bereich wird als weniger sensibel wahrgenommen, solange die Zentral- oder lokale Regierung nicht angegriffen wird oder eine autonome Interessensorganisation stattfindet.
- Das Arbeitsfeld ist auch für ausländische Umweltorganisationen noch recht offen. Mit vielen sachkundigen chinesischen Mitarbeitenden arbeitet Greenpeace in China vor allem in der Umweltforschung und Wissensvermittlung und nicht aktivistisch.
- Liu Junyan selbst argumentiert wissenschaftlich. Indem sie Extremwetter-Situationen erklärt und anschaulich vor zukünftigen Problemen warnt, verfolgt sie das gleiche Ziel wie der Staat, aber kann Menschen aus einer anderen Perspektive erreichen. Sie verbindet deutliche Forderungen nach einer wirkkräftigeren staatlichen Politik mit Lob an anderer Stelle.
Dass gerade im Bereich Umwelt- und Klimapolitik noch Handlungs- und Debattenspielraum besteht, ist auch für Akteur:innen in Deutschland und Europa von großem Interesse. Das Thema nachhaltige Entwicklung stand im Zentrum der diesjährigen deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen. Die neue China-Strategie der Bundesregierung sieht Kooperation im Klimabereich als wichtiges gemeinsames Betätigungsfeld.
Lius Forderung nach Wissenstransfer, Bewusstseinswandel und aktiver Beteiligung von Bürger:innen an dieser globalen Herausforderung verbindet sie mit Gleichgesinnten in Deutschland und andernorts. Inwieweit ihre Ideen und Initiativen die chinesische Klima- und Umweltpolitik beeinflussen können, bleibt abzuwarten.
- Endnoten
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1 | Wir haben die Inhalte der Videos nach fünf Kategorien („ja, wir haben ein Ernährungssicherheitsproblem“, „eher ja“, „eher nein“, „wir haben kein Problem“ und „keine klare Positionierung“) kodiert. Dabei haben wir auch zwischen internen Faktoren (z.B. Korruption und Stilllegung von Ackerflächen) und externen Faktoren (wie Krieg und Geopolitik) unterschieden.
2 | Wir haben 3140 Antworten von der Plattform Zhihu heruntergeladen. Mit der Python-Anwendung „Jieba“ (Chinesisch für „stottern“) segmentierten wir den chinesischen Text und verwandelten die so entstandenen Tokens mit CountVectorizer in ein für maschinelles Lernen nutzbares Format. Anschließend identifizierten wir mit Latent Dirichlet Allocation (LDA) gemeinsame Themen und berechneten das Gewicht jedes Themas im Datenkorpus.