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Pelosi in Taiwan, die Wissenschaft vom Weglaufen, manipulierte Gesundheitsapps: Debatten in Chinas Internet


China SpektrumDiese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Mehr erfahren Sie hier.


Kritik bringt Chinas (Online)-Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck. Von Juni bis August haben drei große Online-Debatten – über den Besuch von Nancy Pelosi, über Möglichkeiten der Emigration und über Manipulation von Gesundheitsapps – unterschiedliche Facetten von Kritik zu Tage gefördert. Aufgrund ihres allumfassenden Kontrollanspruchs nimmt die chinesische Regierung kritische Äußerungen schnell als Bedrohung wahr und unterdrückt diese. Angestauter sozialer Unmut sammelt sich so womöglich unbemerkt - ein potenzielles Risiko für Chinas Regierende.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Nicht nur reden, sondern angreifen“: Chinesische Netzbürger:innen zum Pelosi-Besuch in Taiwan

Nationalistische Töne rund um die Taiwan-Reise der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, überschwemmten Chinas soziale Medien Ende Juli und Anfang August. Im Fokusthema dieses China Spektrum Readers haben wir den Grad der Aggressivität und die Unterthemen von rund 4000 Kommentaren auf Baidu Xinwen und Guanchazhe analysiert. Unser Fazit: Viele Nutzer:innen fordern mehr Härte von ihrer Regierung – kein leichter Balanceakt für Partei- und Staatschef Xi Jinping, der sich auf dem Parteitag der KPC im Oktober für eine dritte Amtszeit bestätigen lassen möchte.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Drohende Talentabwanderung: Chinas Netzbürger:innen diskutieren über „Wissenschaft des Weglaufens“

Auf der Suche nach Sinn und Perspektiven debattieren Chinas Netizens schon seit einigen Monaten über die „Wissenschaft des Weglaufens“ (runxue, 润学). Anlass waren die rigiden Lockdownmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung, aber auch die steigende Jugendarbeitslosigkeit. Wir haben uns die auf der Social-Media-Plattform Weibo diskutierten Motive und Hindernisse für ein „Weglaufen aus China“ angesehen – sei es zum Studium, für eine Arbeit oder auf gut Glück. Wir finden: „runxue“ zeugt von einer tieferen Perspektivenlosigkeit insbesondere von jüngeren Chines:innen, ist aber eher eine innere Haltung. Eine größere Talentabwanderung ist aktuell unwahrscheinlich.

CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION

Proteste stoppen: Manipulation der Gesundheitsapp durch Behörden löst öffentliche Debatte aus

Frustrierte Bankkunden wollten Mitte Juni gegen zunehmende Beschränkungen beim Zugriff auf ihre Konten protestieren. Sie sollten ohne nachvollziehbaren Grund plötzlich durch auf Rot stehende Gesundheitscodes davon abgehalten werden. Rechtsanwält: innen, Regierungsvertreter:innen und IT-Nerds begannen daraufhin eine Debatte über die Risiken von staatlich kontrollierten Apps zur Kontaktnachverfolgung. Die Auswertung dieser Expertendebatten legt folgende Schluss nahe: Staatliche Stellen könnten lokale Proteste künftig häufiger zum Anlass nehmen, die Möglichkeiten zur Manipulation digitaler Technologien zu nutzen, um diese zu unterbinden.

CHINAS ROLLE IN DER WELT

„Nicht nur reden, sondern angreifen“. Chinesische Netzbürger:innen zum Pelosi-Besuch in Taiwan

Was ist passiert?

Die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, besuchte in Begleitung von fünf weiteren Abgeordneten der Demokratischen Partei am 2. und 3. August Taiwan. Dort hielt sie eine Rede im Parlament, traf Präsidentin Tsai Ing-wen sowie Dissidenten aus der Volksrepublik und aus Hongkong.

  • Der Besuch der US- Spitzenpolitikerin sorgte weltweit für Aufsehen. Mehr als 708.000 Menschen verfolgten ihre Landung in Taiwan über den digitalen Flugbeobachtungsdienst Flightradar24 live.
  • Auch das chinesische Staatsfernsehen und Livestream Kanäle auf der Online-Plattform Weibo übertrugen Pelosis Ankunft in Taipeh in Echtzeit. Auf der Video-App Douyin kursierten Aufnahmen von jungen Chines:innen, die weinten und sich schlugen, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.
  • Partei- und Staatschef Xi Jinping warnte: „Wer mit dem Feuer spielt, wird daran zugrunde gehen”. Auch Chinas Diplomatie- und Propaganda-Apparat reagierte mit scharfen Worten.

Besonders hohe Wellen schlug ein Kommentar von Hu Xijin. Der ehemalige Chefredakteur der nationalistischen Zeitung „Global Times” rief die chinesische Volksbefreiungsarmee auf, Pelosis Flugzeug abzuschießen, sollte es auf dem Weg nach Taiwan nicht umkehren. Seinen Beitrag veröffentlichte Hu neben Weibo auch auf Twitter, wo sein Konto zeitweise gesperrt wurde. Später löschte er den Tweet.

Was sagen chinesische Netzbürger:innen?

Wir haben uns die Reaktionen chinesischer Netzbürger:innen auf die meistkommentierten Artikel am 1. August, dem Tag vor Pelosi Ankunft auf Taiwan, auf den beiden öffentlich zugänglichen Nachrichtenplattformen Baidu Xinwen (百度新闻, Baidu News) und Guanchazhe (观察者, The Observer) angesehen.1 Die Analyse der insgesamt 4.023 Kommentare ergibt ein klares Bild. Wir haben vier zentrale Unterthemen ausgemacht: Reaktionen auf den Besuch, die Rolle bzw. der Status Taiwans,2 die internationalen Dimensionen der Krise und Chinas Rolle und Handlungen (siehe Abbildung 1). Der von uns ebenfalls analysierte Grad der Aggressivität in der Sprache der Posts zeigt, dass die Kommentator:innen sich am schärfsten und in teils aggressiven Tönen über Chinas Rolle und Handlungen äußern.3

Abbildung 1

Reaktionen auf den Besuch

Nancy Pelosis Besuch an sich ist das gewichtigste Thema der Kommentator:innen (siehe Abbildung 1). Unter den Kommentaren finden sich häufig Beschimpfungen und Drohungen in Bezug auf den Tod Pelosis. Ein Nutzer schrieb etwa:

„Bei Luo Xi [Anmerkung: Phonetisches Wortspiel mit dem Namen Pelosis, der nach dieser Schreibweise „tragischer Absturz im Westen“ bedeutet] kann nicht mehr zurückkommen. Ich kann mir vorstellen, dass sie abgeschossen wird.“ (悲落西可能回不去了,我一只想象她被打下来的样子.)

帅亦凝oS, (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Auch das Motiv von Pelosi als Geisel kommt wiederholt vor, etwa in der von dutzenden Nutzer:innen aufgegriffenen Formulierung „Flugzeug abschießen, Pelosi lebend gefangen nehmen“ (打下美专机, 活捉佩洛西). Möglicherweise wäre Pelosi aus Sicht dieser Kommentator:innen als Geisel ein Druckmittel gegenüber den USA.

Die internationalen Dimensionen des Besuchs

In den Kommentaren zu den internationalen Dimensionen des Besuchs stehen die USA und das Verhältnis zwischen China und den USA im Mittelpunkt. Nutzer:innen äußern sich vor allem zum Konflikt mit den USA. Viele rechnen mit einer Zunahme der Spannungen zwischen Beijing und Washington. Manche gehen noch weiter:

„Dieser Krieg [mit Taiwan] wird früher oder später stattfinden, und wir werden mit den USA militärisch aufeinandertreffen. Also können wir die Gelegenheit nutzen, uns mit Russland zu verbünden, um die USA zu bekämpfen.“ (我觉得不如毕其功于一役。这战始终要打,而且跟美国也迟早要兵戎相见,还不如借此机会与俄罗斯结盟跟美国一战.)

义乌老崔 (1.8.2022, Guanchazhe)

Auch die wirtschaftliche Verflechtung mit den USA4 ist Gegenstand von Kommentaren. China solle:

„den Abbau von [US-]Staatsanleihen vorantreiben“. (清美债要加大力度了)

luoguohai3512 (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Die Kommentator:innen nehmen die aktuelle Krise auch zum Anlass, um die Zukunft der USA zu thematisieren. Washington sei im Niedergang begriffen:

„(…) es wird zweifellos in Zukunft keine herausragende Rolle mehr für die Vereinigten
Staaten in der Weltgeschichte geben.“
 (以后的人类世界史中确定无疑的将不会再有美国的显著地位)

竹清芯 (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Chinas Rolle und die Handlungen der chinesischen Regierung in dieser Krise

Auffällig ist, dass Posts, die Chinas Rolle und die Handlungen der chinesischen Regierung in der Krise thematisieren, den höchsten Grad an Aggressivität aufweisen (siehe Abbildung 2). Rufe nach gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen und Aufrufe zum Krieg bekommen die meisten Likes. Der folgende Beitrag etwa wurde 4.107 mal mit „Gefällt mir“ markiert:

„Schrotflinte bereit, Kugeln geladen!“ (猎枪己准备好,子弹己上膛!)

咎采萱t0“ (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Manche Nutzer schreiben, dass sie auch persönliche Opfer – etwa finanzieller Natur – in Kauf nehmen würden, sollte der Konflikt weiter eskalieren:

„Ich bin bereit, meine Rente zu spenden, wenn das Land sie braucht.“ (只要国家需要,我愿意捐献退休金)

漫翎07C, (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Die Bereitschaft, selbst mitzukämpfen, findet sich dagegen kaum. Zweifel an der Kampfmoral der chinesischen Armee und Bevölkerung sind deshalb wenig überraschend:

„Der [Korea-]Krieg hat zahllose Märtyrer das Leben gekostet und der chinesischen Nation ein jahrzehntelanges nationales Glück beschert. Heute, als zweitgrößte Volkswirtschaft und erste Industrienation der Welt, werden wir vielleicht vor demselben Feind [den USA] stehen. Ob die Söhne und Töchter Chinas, die ein immer besseres Leben führen, es noch wagen, sich mit heißem Blut dem Feind entgegenzustellen?“ (那一战无数先烈用生命换来了中华民族数十年国运,今天,我们作为世界第二经济体,世界第一工业国,又可能要站在同样的敌人面前,而日子越过越好的中华儿女是否还有那股热血敢于直面敌人)

guan_15887638782730, ( 1.8.2022, Guanchazhe)

Nur wenige Posts auf Baidu Xinwen wenden sich gegen diese aufgeheizte Stimmung. Sie wählen dabei insbesondere drei Herangehensweisen. Manche Nutzer üben Kritik an chinesischen Medien:

„Die Medien sind bereits in Gefechtsposition.“ (媒体己严阵以待)

风落潇潇mo, (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Andere rufen zur Vernunft auf:

„Internettrolle sind so fanatisch. Einen Krieg zu führen bedeutet, dass Menschen
sterben. Seid vernünftig!“
(网络喷子都这么狂热,打仗要死人的,理性点)

60 Ym83ch3 (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Wieder andere vertreten die Ansicht, dass solche politischen Großereignisse fernab von der Lebenswelt der meisten Bürger sind:

„Es geht uns nichts an, ob (Pelosi) kommt oder nicht.“ (去不去跟咱们百姓无关)

泉越彬Y2” (1.8.2022, Baidu Xinwen)

Abbildung 2

Was bedeutet das?

Auf den untersuchten Online-Plattformen Baidu Xinwen und Guanchazhe dominieren aggressive, nationalistische Töne in Bezug auf die Taiwan-Frage. Wenige chinesische Netzbürger:innen äußern Sorge vor einer militärischen Eskalation. Das zeigen die wenigen, aber allesamt kritischen Kommentare über die scharfen Posts des ehemaligen „Global Times“-Chefredakteurs Hu Xijin sowie vereinzelte Warnungen vor den Auswirkungen, die ein Krieg zwischen China und den USA hätte.

Nationalistische Stimmungen sind für Chinas Regierung ein willkommenes Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Problemen. Sie könnten ihr aber auch gefährlich werden. Denn sie setzen Beijing unter Zugzwang – zu einer Zeit, wo sich die chinesische Führung (noch) nicht bereit für eine militärische Auseinandersetzung mit den USA sieht.

Partei- und Staatschef Xi Jinping braucht mit Blick auf den 20. Parteikongress der KPC durchaus starke Drohgebärden, um Eliten wie Bevölkerung auf seine geplante dritte Amtszeit einzuschwören. Xi muss eine schwierige Balance halten: Flankierend zu Militärübungen werden Teile des Parteistaates Taiwan auch verbal immer wieder scharf attackieren. Andere werden indes für Mäßigung plädieren, damit die nationalistische Stimmung nicht zu aggressiv wird und außer Kontrolle gerät.

CHINAS ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN

Drohende Talentabwanderung: Chinas Netzbürger:innen diskutieren über die „Wissenschaft des Weglaufens“

Was ist passiert?

Im Frühjahr 2022 haben Nutzer:innen in Chinas sozialen Medien eine Debatte über das Thema Auswanderung entfacht. Auslöser war der strikte Lockdown in Shanghai von März bis Juni. Agenturen berichteten von einem massiv gestiegenen Interesse an Visa für Studierende und Greencards. Suchportale wie Baidu verzeichneten Anfang April und Mitte Mai für den Begriff „Auswanderung“ (移民) eine tägliche Zuwachsrate von bis zu 500 Prozent. Weil dieses und ähnliche Wörter daraufhin auf verschiedenen Plattformen zensiert wurden, prägten Chinas Internetnutzer:innen den Begriff „runxue“ (润学). Die Wortneuschöpfung setzt sich zusammen aus dem Schriftzeichen „润“ (rùn), ausgesprochen wie das englische Wort für „laufen“, und dem Zeichen für Lehre oder Wissenschaft, also: „Wissenschaft des Weglaufens“. Mittlerweile werden auch Beiträge zu „runxue“ teilweise zensiert.

Die Ursachen für die auf allen großen sozialen chinesischen Medienplattformen geführte Debatte reichen über den Lockdown hinaus. Sie umfassen:

  • wachsende Frustration über einen harten sozio-ökonomischen Wettbewerb von Kindesbeinen an
  • steigende (Jugend-)Arbeitslosigkeit (mehr als 20 Prozent)
  • zunehmende ideologisch motivierte Einschränkungen im Freizeitleben (etwa die Beschränkung der Zeit für Onlinespiele oder das Verbot beliebter Netflix-Serien).

In Hongkong, wo hohe sozio-ökonomische Ungleichheit, exorbitante Wohnungspreise sowie eine zunehmende Gleichschaltung der Zivilgesellschaft zusammenfallen, warnt die Regierung offen vor den Auswirkungen einer Abwanderung von Talenten und gut ausgebildeten Menschen.

Was sagen Chinas Netzbürger:innen dazu?

Einen umfassenden Einblick in die Diskussion rund um „runxue“ bietet die Plattform Weibo.5 Dabei wird in der Debatte weniger über Zielländer diskutiert als vielmehr über Motive und den Willen, China zu verlassen. Als Gründe nennen Netizens in erster Linie:

Die mangelnde Kontrolle über das eigene Leben durch die strikten Covid-Maßnahmen:

„Nach einer Stunde täglichen Anstehens für den Covid-Test bei 40°C muss ich Tag für Tag über Runologie nachdenken.“ (感谢每天一个小时40度的核酸 让我每天不得不思考一遍润学.)

青菜豆腐佬, (13.8.2022, Weibo)

Generelle Unzufriedenheit mit der politischen Situation:

„Jetzt verstehe ich zum ersten Mal, warum unser Schuldirektor in der WeChat-Gruppe immer über die Regierung und die Partei schimpft (…) jetzt finde ich wirklich auch, dass die Regierung verrottet [verfault] ist.“ (但是我第一次开始认真研究润学了, 第一次开始理解天天在朋友圈骂d骂g的学长 (…) 但这次真的让我觉得烂透了)

我一点都不芳芳芳, (16.7.2022, Weibo)

Persönliche Karriereziele:

„[D]er wirkliche Nutzen von runxue ist, dass man sich durchs Studium oder Arbeit im Ausland Aufstiegschancen erwirbt (….).“ (润学”真正的收益在于在润的过程中通过留学、工作等带来阶级的提升)

巫妖王重庆菊花麻雀斯基, (4.8.2022, Weibo)

Verschlechterte wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie steigende Arbeitslosigkeit und schlechtere individuelle Zukunftsperspektiven:

„Je mehr ich mich Tag für Tag mit Runologie beschäftigte, desto unruhiger wurde ich. Weil ich nicht weglaufen konnte, gaben mir meine aufeinanderfolgenden Misserfolge das Gefühl, dass mein Leben wie eine ummauerte Stadt ist. Ich sehe keine Hoffnung mehr.“ (这一天天的研究“润学” 越研究越焦虑。因为我逃不掉,接连失败让我感觉生活多了许多堵围城 看不到希望.)

吉普赛在逃渔父, (14.8.2022, Weibo)

Was bedeutet das?

Die anhaltende Online-Debatte um „runxue“ zeigt, wie desillusioniert viele chinesische Netzbürger:innen in Bezug auf ihre Zukunftsaussichten sind. „Runxue“ knüpft an frühere Diskussion der Hoffnungslosigkeit an, wie z. B. die Auseinandersetzungen um „Involution“ (内卷, neijuan), dem Gefühl, aussichtslos festzustecken, und das „Flachliegen“ (躺平, tangping), die Unfähigkeit und den Unwillen, sich aufzuraffen und ein aktives Leben zu führen.

Aufgrund beachtlicher Hürden bleibt „runxue“ für vielen Nutzer:innen eine theoretische Disziplin: mangelnde finanzielle Mittel, Schwierigkeiten, an einen Reisepass zu kommen oder auch familiäre Verpflichtungen lassen den Wunsch „wegzulaufen“, nur schwer Realität werden. Die Debatten können so als eine imaginäre Flucht vor der eigenen Lebensrealität und als verbaler Protest verstanden werden.

Die Wahrscheinlichkeit einer großen Auswanderungswelle ist deshalb kurzfristig als eher gering einzuschätzen. Die Zahlen der chinesischen Studierenden im Ausland, beispielsweise in den USA, gehen aktuell zurück. Langfristig gibt es durchaus das Risiko eines Braindrains.

Das Risiko einer Abwanderung von Talenten und gut ausgebildeten Chines:innen beschäftigt die Regierung in Beijing schon länger. Sie bemüht sich intensiv, diese Gruppen im Land zu halten oder chinesische Studierende und Fachkräfte im Ausland zur Rückkehr zu motivieren. Die Debatten über eine „Wissenschaft des Weglaufens“ verleihen diesen Bemühungen um das Halten von Talenten neue Dringlichkeit.

CHINAS DIGITALE TRANSFORMATION

Proteste stoppen: Manipulation der Gesundheitsapp durch Behörden löst öffentliche Debatte aus

Was ist passiert?

Mitte Juni schaltete überraschend bei mehr als 1.300 Menschen der Gesundheitscode auf ihren Smartphones auf Rot: Sie alle waren Kunden von vier Banken der zentralchinesischen Provinz Henan. Die Finanzhäuser waren in finanzielle Engpässe geraten und hatten ihren Anleger:innen bereits seit April den Zugriff auf Online-Konten verwehrt und Abhebungen vor Ort immer weiter eingeschränkt. Dann passierte Folgendes:

  • Rote Codes verhindern Proteste. Rund 400 Betroffene waren auf dem Weg zu den Bankfilialen in der Provinzhauptstadt Zhengzhou, um ihre Rechte einzufordern, als sie plötzlich „rot“ sahen. Sie hatten keine Risikokontakte, andere Covid-Warn-Apps blieben teils grün.
  • Die Polizei hält Menschen fest. Betroffene berichteten in sozialen Medien, dass sie von der Polizei festgehalten und der lokalen Bankenaufsicht unter Druck gesetzt wurden, ihre Proteste einzustellen. Sie würden bei ihrer Abreise einen grünen Covid-Pass bekommen.
  • Behörden leiten Untersuchung ein. Nachdem der Fall eine Welle der Empörung ausgelöst hatte, leiteten die Behörden in Zhengzhou eine offizielle Untersuchung ein und verhängten wegen Amtsmissbrauchs Disziplinarstrafen gegen einige Mitarbeiter:innen der Gesundheitsbehörden.

Was sagen Chinas Netzbürger:innen dazu?

Viele Netizens stellten die Frage, inwiefern Behörden verantwortungsvoll mit personenbezogenen Daten umgehen. Der Fall schlug auch deshalb hohe Wellen, weil die staatliche Willkür normale Bürger:innen traf, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten versuchten, an ihr Erspartes zu kommen.

In der Debatte um die „roten Codes“ meldeten sich nicht nur staatliche Medien, sondern auch Regierungsvertreter:innen, Jurist:innen und Technologie-affine Blogger:innen zu Wort. Die hier wiedergegebenen Beiträge gehörten Ende Juni zu den meist-geteilten Inhalten auf der Social-Media-Plattform Weibo (siehe auch Abbildung 4).

  • Die zur parteistaatlichen Nachrichtenagentur Xinhua gehörende Zeitschrift China Comment (半月谈) forderte auf Weibo, die Behörden von Henan müssten erklären, wer die Entscheidung getroffen habe und wie es zur Änderung der Codes kommen konnte.
  • IT-affine Weibo-Nutzer:innen widerlegten Angaben der Behörden, die Vorfälle mit einer Panne in der Nutzung von Big Data begründeten. Anhand offizieller Handbücher zeigten sie, dass der Code nur durch persönliche Intervention auf Rot gesetzt werden konnte.
  • Die Rechtsprofessorin Lao Dongyan (劳东燕) von der Tsinghua-Universität sagte in einem oft geteilten Interview mit der Nachrichtenplattform Caixin, die Praktiken der lokalen Behörden verstießen womöglich gegen das Infektionsschutzgesetz und das Gesetz über den Schutz personenbezogener Daten.
  • Hu Xijin (胡锡进), ehemaliger Chefredakteur der nationalistischen parteistaatlichen Zeitung Global Times, warnte vor den negativen Auswirkungen auf die öffentliche Akzeptanz für das Gesundheits-Code-System.
Abbildung 3

Was bedeutet das?

Die Netzbürger:innen konzentrieren sich fast ausschließlich auf Defizite in der Umsetzung der Gesundheitscodes und kritisieren lokale Willkür. Die Nutzung digitaler Kontrollinstrumente durch die Regierung und die weitreichenden staatlichen Befugnisse im Zugriff auf personenbezogene Daten thematisieren sie indes nicht. Dies zeigt die roten Linien für Diskussionen, die von Seiten des Staates gesetzt werden.

Einerseits verhängte die Cyberaufsichtsbehörde (国家互联网信息办公室) in den vergangenen Monaten öffentlichkeitswirksam Strafen wegen „unverhältnismäßiger Datensammlung“ gegen Unternehmen. Parteistaatliche Medien feierten Milliarden-Bußgelder wie im Fall von Fahrdienstvermittler Didi als Erfolg des neuen Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten, das seit November 2021 in Kraft ist.

Anderseits wurde die Berichterstattung und öffentliche Diskussion über zwei massive Leaks personenbezogener Daten systematisch zensiert. Hacker hatten im Juli offenkundig unzureichend geschützte Datensätze der Shanghaier Polizeibehörden und der Shanghaier Gesundheitscode-App von hunderten Millionen von Menschen im Netz angeboten.

Trotz eingeschränktem Raum für Kritik werden Bürger:innen weiter ein Auge auf den staatlichen Umgang mit Daten und Apps haben: Manche aktuellen Entwicklungen in China bergen Potential für Proteste. Dazu gehören die aktuelle Geldnot bei Banken, Bankrotte von Immobilienentwicklern, steigende Arbeitslosigkeit und die anhaltenden und drohenden neuen Lockdowns. Bürger:innen und Medien in China werden genauer darauf schauen, wie die Gesundheitscodes eingesetzt werden. Auch gegen einen Plan der Gesundheitsbehörden, die Codes langfristig beizubehalten und mit anderen Datensätzen zu verknüpfen, könnte sich Widerstand regen.

Abbildung 4
Endnoten

1 | Baidu Xinwen ist die seit 2013 aktivierte Nachrichtenplattform des Unternehmens Baidu. Baidu aggregiert Nachrichten anderer Anbieter und personalisiert auf Basis von Lesegewohnheiten die vorgeschlagenen und zuerst sichtbaren Titel. Die Kommentarsektion unter Artikeln bietet auch liberaleren Lesern Raum für Beiträge und Diskussion. Guanchazhe (The Observer) ist eine 2012 in Shanghai gegründete Nachrichtenplattform. Sie ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen einem staatlichen Wissenschaftsmagazin und privaten Unternehmern, u.a. dem bekannten Investor Eric X. Li. Guanchazhe berichtet über internationale Ereignisse oft mit nationalistischem, anti-westlichem Tonfall.

2 | Das Unterthema Status und Rolle Taiwans wurde nahezu ausschließlich unter dem Aspekt der territorialen Zugehörigkeit zu China kommentiert, deshalb werden wir dieses im Folgenden nicht weiter darlegen.

3 | Guanchazhe (2022). Das chinesische Außenministerium hat den Vereinigten Staaten erneut mitgeteilt, dass China bereit ist und die chinesische Volksbefreiungsarmee nicht tatenlos zusehen wird (我外交部再次正告美方:中方正严阵以待,中国人民解放军绝不会坐视不管). 1.8. https://www.guancha.cn/politics/2022_08_01_651856.shtml; Wang, Huangqiu (2022). Viele taiwanische Medien vermuten, dass Pelosi frühestens morgen in Taiwan eintreffen wird (多家台媒猜“佩洛西最快明日到台湾). 1.8. https://baijiahao.baidu.com/s?id=1739943108995275970&wfr=spider&for=pc. Die Auswahl der Webseiten erfolgte auf Basis von Popularität und öffentlicher Zugänglichkeit. Nach der Datengewinnung (per Web-Scraping) und einer explorativen Durchsicht der Daten haben wir die beiden Kategorien „Grad derAggressivität (gegenüber Taiwan/USA/Westen)” und „Thema des Posts“ (mit fünf Unterkategorien „Bezug zum Besuch von Pelosi”, „Chinas Aktionen und Haltung”, „territoriale Fragen”, „internationale Beziehungen” und „persönliche Bezüge (nicht Besuchs-/Konflikt-bezogene Inhalte) als Coding-Kategorien festgelegt. Wir kodierten daraufhin unter Beachtung der Intercoder-Relabilitität ein Trainingsset von 1.000 Posts. Damit wurde ein Modell für maschinelles Lernen aus dem Python Modul „scikit-learn“ (s. https://jmlr.csail.mit.edu/papers/v12/pedregosa11a.html) trainiert, um für die restlichen Kommentare im Korpus den Grad der Aggressivität und das Unterthema zu prognostizieren. Um die Genauigkeit des Modells zu verbessern, haben wir die Kommentare der Unterkategorie „persönlicher Bezug“ ausgeschlossen, die keinen offensichtlichen Bezug zum Pelosi-Besuch hatten. Die endgültige Genauigkeit des Modells lag dann bei 73 Prozent für den Stimmungs-Klassifikator (Grad der Aggressivität) und bei 67 Prozent für den Themen-Klassifikator. Das Modell neigte bei der Prognose leicht dazu, die dominierenden Kategorien im Datensatz (hoher Aggressivitätslevel, Unterthema Nancy Pelosi) zu bevorzugen.

4 | Die Volksrepublik hat seit Anfang 2021 den Dollar-Anteil ihrer ausländischen Staatsanleihen reduziert. Mit rund 980,8 Mrd. USD liegt dieser erstmals seit 12 Jahren wieder unter der 1-Billionen-Marke.

5 | Eine qualitative Inhaltsanalyse erfolgte auf Basis eines Datensatzes aus 423 Posts, die zwischen dem 13. April und 18. August 2022 auf Weibo veröffentlicht wurden und die in der Kategorie „Gesamt“ (综合 ) unter dem Suchwort „runxue“.

 

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